Nach vorgezogenen Parlamentswahlen im April 1999 bildet Bülent Ecevit im Juni eine Koalitionsregierung aus seiner Demokratischen Linkspartei (DSP), der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und der konservativen Mutterlandspartei (ANAP). Ende Juni 1999 wird der Führer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, von einem türkischen Sondergericht wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Die PKK beendet ihren bewaffneten Kampf um Autonomie und beginnt mit dem Rückzug ihrer Freischärler aus der Türkei.
Sturz der Regierung Yilmaz
Am 25.11. 1998 stimmen 314 der 528 anwesenden Abgeordneten in der Großen Nationalversammlung (Parlament) für drei von den Oppositionsparteien eingebrachte Mißtrauensanträge gegen Ministerpräsident Mesut Yilmaz (ANAP), der daraufhin bei Staatspräsident Süleyman Demirel seinen Rücktritt einreicht. Yilmaz waren Amtsmißbrauch bei der Privatisierung der staatseigenen Türkbank sowie Verbindungen zur organisierten Kriminalität vorgeworfen worden. Seine 1997 gebildete Minderheitsregierung aus ANAP, Demokratischer Türkei-Partei (DTP) und DSP war auf Stimmen der sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei (CHP) angewiesen, die wegen der Korruptionsvorwürfe ihre Unterstützung für Yilmaz aufkündigte.
Nach langwierigen Bemühungen um eine Regierungsbildung stellt der frühere Ministerpräsident Ecevit (1974 und 1978-79) am 11.1. 1999 eine Übergangsregierung aus Mitgliedern seiner DSP - die nur 61 der 550 Mitglieder im Parlament stellt - vor. Sie soll mit Duldung durch die rechtskonservative Partei des Rechten Weges (DYP) der ehemaligen Ministerpräsidentin Tansu Çiller (1993-96) und der ANAP des Amtsvorgängers Yilmaz bis zu vorgezogenen Parlamentswahlen im April amtieren. Das Parlament spricht dem Kabinett am 17.1. mit 306 gegen 188 Stimmen das Vertrauen aus.
Parlamentswahlen
Bei den um ein Jahr vorgezogenen Wahlen zur Großen Nationalversammlung am 18.4. 1999, zu denen 37 Mio. Wahlberechtigte aufgerufen waren, erzielen die DSP des Ministerpräsidenten Ecevit mit 22,2 (+7,6 gegenüber 1995) % und die MHP unter Vorsitz von Devlet Bahçeli mit 18,1 (+10,0) % Stimmengewinne. Verluste erleiden die islamistische Tugendpartei (FP; Nachfolgepartei der im Januar 1998 verbotenen Wohlfahrtspartei RP) mit 15,3 (-6,0) %, die ANAP mit 13,6 (-6,0) % und die DYP mit 12,1 (-7,0) %.
Am 3.5. beauftragt Staatspräsident Demirel den amtierenden Ministerpräsidenten Ecevit mit der Bildung einer neuen Regierung.
Kopftuchstreit
Bei der Konstituierung der neugewählten Großen Nationalversammlung am 2.5. 1999 kommt es zum Eklat, als die Abgeordnete der islamistischen Tugendpartei (FP), Merve Kavakçi, zur Vereidigungszeremonie mit einem Kopftuch bekleidet erscheint. Die Sitzung wird nach lautstarken Protesten vor allem von Abgeordneten der Demokratischen Linkspartei (DSP) unterbrochen und später ohne die Abgeordnete aus Istanbul fortgesetzt, die also keine Gelegenheit erhielt, den Eid abzulegen. Die Staatsanwaltschaft teilt anschließend mit, daß gegen Frau Kavakçi wegen Verstoßes gegen Artikel 312 des Strafgesetzbuchs ermittelt werde, der die Aufhetzung des Volkes zu »Haß und Feindschaft« unter Ausnutzung ethnischer, religiöser oder regionaler Unterschiede verbietet und eine Haftstrafe von bis zu drei Jahren vorsieht. Das Kopftuch gilt in der Türkei als Bekenntnis zum politischen Islam, dessen Ausbreitung vom einflußreichen Militär und der weltlichen Elite bekämpft wird. Ministerpräsident Ecevit verurteilte das Verhalten von Frau Kavakçi ebenso wie Staatspräsident Demirel als inakzepablen Akt der Provokation des Staats und als Verletzung der im Abgeordneteneid enthaltenen Verpflichtung zu Säkularismus, während die Abgeordnete selbst das Tragen des Kopftuchs als Menschenrecht verteidigt hatte. Staatsangestellten und Studentinnen ist es untersagt, an ihrem Arbeitsplatz bzw. in den Universitäten ein Kopftuch zu tragen. Nach einem Regierungsdekret vom 13.5., das von Präsident Demirel bestätigt und am 16.5. im Amtsblatt veröffentlicht wurde, wird Frau Kavakçi die türkische Staatsangehörigkeit mit der Begründung aberkannt, daß sie durch Heirat zugleich US-Bürgerin sei. Die Türkei erkennt eine doppelte Staatsbürgerschaft zwar prinzipiell an, es bedarf dazu jedoch einer zuvor erteilten Genehmigung. Um diese Erlaubnis hatte die in den USA ausgebildete Computer-Fachfrau aber offensichtlich nicht nachgesucht.
Am 7.5. 1999 beantragt die Generalstaatsanwaltschaft beim Verfassungsgericht das Verbot der FP und die Aberkennung des Parlamentsmandats aller ihrer 110 Abgeordneten, da sie eine Neugründung der Anfang 1998 verbotenen islamistischen Wohlfahrtspartei (RP) sei.
Neue Regierung Ecevit
Am 28.5. 1999 bildet Ecevit eine Koalitionsregierung aus seiner DSP, der MHP und der ANAP. Die DSP erhält die Ministerien für Äußeres, Bildung, Kultur, Forstwirtschaft, Justiz und Umwelt, die MHP die für Verteidigung, Industrie, Handel, Arbeit, Gesundheit, Verkehr und Landwirtschaft und die ANAP die für Inneres, Energie, Finanzen, Tourismus sowie Arbeit und Soziales. DSP und MHP stellen je einen Stellvertretenden Ministerpräsidenten, Außenminister ist Ismail Cem (DSP). Das Regierungsbündnis verfügt über 351 der 550 Parlamentssitze. Als Ziele seines Regierungsprogramms nennt Ecevit: Senkung der Inflation, Einführung eines neuen Bankengesetzes, Reformierung der umstrittenen Staatssicherheitsgerichte (der Militärrichter soll durch einen Zivilrichter ersetzt werden) und finanzielle Unterstützung für die aus ihren Dörfern im Südosten des Landes geflohenen Familien (»Dorfrückkehr-Projekt«).
Politikverbot für Erbakan aufgehoben
Eine vom Parlament am 12.8. 1999 mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit vorgenommene Novellierung des Parteiengesetzes macht für den ehemaligen Ministerpräsidenten (1996-97) und früheren Vorsitzenden der islamistischen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi / RP), Neçmettin Erbakan, einen Einzug in die Große Nationalversammlung möglich, wenn auch nur als unabhängiger Abgeordneter. Die Verfassungsänderung geschah gegen den Willen der Regierungskoalition, die im Parlament über 351 der 550 Abgeordnetenmandate verfügt; zur Änderung der Verfassung ist jedoch eine Zweidrittelmehrheit mit mindestens 368 Stimmen notwendig.
Das Verfassungsgericht hatte die RP im Januar 1998 verboten; für deren Mitbegründer und Vorsitzenden trat zugleich ein fünf Jahre währendes Verbot der politischen Betätigung in Kraft. Auch nach der Neufassung des Paragraphen 95 des Parteiengesetzes dürfen Gründungsmitglieder einer verbotenen Partei fünf Jahre lang keine neue Partei gründen oder führen und auch nicht als Kandidaten für ein Abgeordnetenmandat nominiert werden.
Der Hauptstrom der verbotenen RP organisierte sich nach ihrem Verbot in der Tugendpartei (Fazilet Partisi / FP) neu, die bei den Parlamentswahlen im April 1999 vom ersten auf den dritten Platz abrutschte.
Erdbebenkatastrophe
Der Nordwesten der Türkei wird am 17.8. 1999 von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht. Das Epizentrum des Bebens der Stärke 7,4 auf der Richter-Skala ist die 90 km südöstlich von Istanbul gelegene Industriestadt Izmit. Bis 30.8. 1999 werden aus den Häusertrümmern 14095 Menschen tot geborgen, 27234 Verletzte wurden oder werden noch immer medizinisch betreut. Mehr als die Hälfte der Toten wird allein aus der Provinz Kocaeli (Izmit) gemeldet, jeweils ein Fünftel entfällt auf die Provinzen Sakarya (Adapazari) und Yalova. Die Zahl der Vermißten liegt bei über 30000. Obdachlos wurden rund 600000 Menschen. Die staatliche Statistikbehörde gibt die Zahl der unbewohnbar gewordenen Häuser mit 111851 an. Kritik wird in der Folge an der Bauindustrie und den laschen Bauvorschriften geübt; diese seien dafür verantwortlich, daß bei dem Beben tausende von Gebäuden wie Kartenhäuser einstürzten.
Amnestiegesetz
Das Parlament verabschiedet am 29.8. 1999 ein Amnestiegesetz, durch das voraussichtlich die Hälfte der 68851 Gefangenen freikommen wird. Amnestiert werden Personen, die bis zum 23.4. zu Haftstrafen bis zu zwölf Jahren verurteilt wurden, sowie alle jugendlichen Straftäter. Ausgenommen sind Personen, die aufgrund von Staatsverrat, Verbrechen gegen den Staat, Korruption, Drogenhandel, Vergewaltigung und dem Legen von Waldbränden verurteilt wurden. Das gilt auch für kurdische Guerillakämpfer sowie islamische Extremisten und Linksextremisten. Von der Amnestie profitieren - wenn auch mit einer Bewährungsfrist von drei Jahren - Journalisten, die in ihren Artikeln kurdische Freischärler unterstützten. Mit der Amnestie will die Regierung die Kontrolle über die überfüllten Haftanstalten zurückgewinnen; in einigen von ihnen befinden sich ganze Flügel unter Kontrolle der Insassen. Es kam in Gefängnissen wiederholt zu Revolten und Hungerstreiks.
Wirtschaft
Mit den Stimmen eines Großteils der Opposition stimmt das Parlament am 14.8. 1999 einer Regierungsvorlage zu, mit der die stagnierende Wirtschaft saniert werden soll. Kernstück des Gesetzes ist eine Verfassungsänderung, durch die eine internationale Schlichtung in Wirtschaftsfragen in der Türkei künftig zulässig ist und die Privatisierung von Staatsbetrieben erleichtert wird. Die Regierung hofft, damit die Kreditwürdigkeit erhöhen und die Türkei für ausländische Investoren interessanter zu machen.
Außenpolitik
Im Oktober 1998 verschärfen sich die Spannungen mit Syrien wegen dessen Unterstützung der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Syrien wirft seinerseits der Türkei vor, ihren Anteil am Euphrat-Wasser zu überziehen. Nach türkischen Kriegsdrohungen wird am 20.10. in Ankara eine Vereinbarung unterzeichnet, in der die syrische Regierung die Einstellung der Unterstützung der PKK verbindlich zusagt.
Nach einem diplomatischen Konflikt mit dem Iran im Juli 1999 - Anlaß waren iranische Vorwürfe über Luftangriffe der Türkei auf Grenzposten im Norden Irans - wird am 13.8. 1999 in Ankara ein Protokoll unterzeichnet, in dem sich beide Seiten zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus im Grenzgebiet verpflichten; sie wollen nunmehr gegen die PKK im Iran und die Mudschahedin-e Chalq (Volksmudschahedin) in der Türkei vorgehen.
Zu Spannungen mit Italien führt die Weigerung der italienischen Regierung im November 1998, Abdullah Öcalan an die Türkei auszuliefern.
Nach einer Empfehlung der EU-Kommission, in der die Türkei als Kandidat für die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union (EU) erwähnt wird, kündigt die Türkei im November 1998 die Wiederaufnahme der Beziehungen zur EU an. Der politische Dialog war von türkischer Seite abgebrochen worden, als sich die EU im Dezember 1997 weigerte, die Türkei auf eine Liste mit elf Beitrittskandidaten zu setzen. Dadurch wurde auch das Verhältnis zu Deutschland getrübt, das von der türkischen Regierung beschuldigt wurde, den EU-Beitritt der Türkei zu verhindern. Der deutsche Außenminister Joschka Fischer bekräftigt am 22.7. 1999 in Gesprächen mit Staatspräsident Demirel, Ministerpräsident Ecevit und Außenminister Cem in Ankara den Willen Deutschlands, sich in der EU für eine formelle Anerkennung der Türkei als Beitrittskandidat einzusetzen, drängt jedoch auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage. Fischer besucht das Büro einer Menschenrechtsorganisation, deren früherer Leiter wegen Äußerungen zu den Kurden in Haft ist. Die spontane Hilfsbereitschaft der EU und insbesondere Griechenlands nach dem verheerenden Erdbeben deuten eine Verbesserung auch des politischen Klimas an. Am 26.7. begonnene griechisch-türkische Gespräche auf der Ebene hoher Beamter haben trotz konkreter Themen für die Verbesserung der gespannten Beziehungen zunächst eine mehr symbolische als praktische Bedeutung. Hauptstreitpunkte wie die von der Türkei in Frage gestellten Grenzen in der Ägäis und die Meinungsunterschiede im Zypern-Konflikt wurden bei den Verhandlungen vorerst ausgeklammert; mit konkreten Vereinbarungen in den Bereichen Tourismus und Umwelt, kulturelle Zusammenarbeit und Handel, Bekämpfung des Schlepperwesens bei Flüchtlingen, des Rauschgiftschmuggels, der organisierten Kriminalität und des Terrorismus soll gegenseitiges Vertrauen aufgebaut werden. Griechenland behält sich nach wie vor das Vetorecht gegen alle die Türkei betreffenden EU-Entscheidungen vor.
In einer am 16.7. von allen Parteien unterstützten Entschließung spricht sich das türkische Parlament gegen die vom UN-Sicherheitsrat vorgeschlagene Aufnahme neuer Zypern -Verhandlungen »ohne Vorbedingungen« zwischen den Repräsentanten der auf der Insel lebenden Griechen und Türken aus.
Die EU-Außenminister einigen sich am 4. / 5.9. 1999 auf einem informellen Treffen in Sariselkä (Finnland), der Türkei auf dem EU-Gipfeltreffen in Helsinki eine konkrete Beitrittsperspektive zu eröffnen.
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