Bei den Parlamentswahlen am 8.11. 1998 (Wahlbeteiligung rund 55 %) wird die links-nationalistische Sammelbewegung Polo Patriótico, ein Wahlbündnis aus dem Movimiento Quinta República (MVR) des Populisten Hugo Chávez Frías, Movimiento al Socialismo (MAS), Patria Para Todos (PPT) und weiteren Gruppierungen mit etwa 34 % des Stimmen und 76 von 189 Sitzen im Abgeordnetenhaus sowie 17 von 48 Mandaten im Senat stärkste politische Kraft. Die sozialdemokratische Acción Democrática (AD) bleibt mit 55 (1993: 55) bzw. 19 (16) Sitzen stärkste Partei. Die christlich-soziale COPEI (Comité de Organización Política Electoral Independiente) erhält nur noch 27 (54) bzw. 7 (14) Mandate.
Bei den zugleich stattfindenden Gouverneurswahlen in den 22 Bundesstaaten und im Hauptstadt-Bundesdistrikt erringen der Polo Patriótico und die AD je acht Gouverneursposten und die COPEI fünf.
Der ehem. Oberstleutnant Chávez, der als Anführer eines gescheiterten Putschversuchs am 4.2. 1992 gegen den damaligen Präsidenten Carlos Andrés Pérez Rodriguéz zwei Jahre im Gefängnis verbrachte und sich v.a. in den Armutsvierteln als Kämpfer gegen Korruption und das Establishment profilierte, kann sich bei den Präsidentschaftswahlen am 6.12. 1998 (Wahlbeteiligung rund 65 %) mit 56,2 % der Stimmen u.a. gegen den gemäßigten Wirtschaftsfachmann und früheren Gouverneur des Bundesstaats Carabobo, Henrique Salas Römer (39,9 %) vom Proyecto Venezuela, und Irene Sáez (2,8 %), die erfolgreiche Bürgermeisterin eines wohlhabenden Stadtteils von Caracas und Miß Universum von 1981, durchsetzen. Um einen Wahlsieg von Chávez zu verhindern, hatten die AD am 28.11. 1998 und kurz darauf auch die COPEI ihren jeweiligen Kandidaten, Luís Alfaro Ucero bzw. Sáez, die Unterstützung entzogen und zur Wahl von Salas aufgerufen.
Die Wahlen markieren den Niedergang der beiden Traditionsparteien AD und COPEI, die während 40 Jahren dominierten. Deren Mißwirtschaft und Korruption führten u.a. zu steigender Armut und einer drastischen Verschlechterung der elementaren staatlichen Dienstleistungen einschl. Gesundheits-, Erziehungs- und Justizwesen. Trotz des Erdölreichtums leben über 80 % der Bevölkerung in Armut, etwa 40 % unter dem Existenzminimum.
Die Rezession, in die Venezuela im zweiten Halbjahr 1998 insbesondere infolge des niedrigen Erdölpreises, des deutlichen Anstiegs der inländischen Realzinssätze zur Verteidigung des überbewerteten Bolívar und politischer Unsicherheit geriet, vertieft sich 1999, obwohl der Erdölpreis wieder deutlich angestiegen ist. Das reale BIP ging 1998 um -0,7 % zurück (1997: +5,9 %). Rund drei Viertel des Exports und fast 60 % der Staatseinnahmen entfallen auf den Erdölsektor.
Chávez, der am 2.2. 1999 Rafael Caldera Rodríguez als Staats- und Regierungschef ablöst, leistet in Abänderung der traditionellen Formel seinen Amtseid auf die »totgeweihte Verfassung«. In Chávez\' neuer Regierung dominieren linksorientierte Politiker und Personen mit militärischer Laufbahn; José Vicente Rangel wird Außenminister, General Raúl Salazar Verteidigungsminister. Zahlreiche wichtige öffentliche Ämter werden mit ehemaligen und aktiven Militärs besetzt. Präsident Chávez, der unmittelbar nach seiner Wahl von einigen im Wahlkampf gemachten radikalen, populistischen Aussagen abgerückt war, strebt mittels einer neuen Verfassung eine grundlegende Reform des politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Systems sowie die Bekämpfung von Armut und Korruption an; er kündigt eine friedliche und demokratische Revolution an und droht wiederholt mit der Auflösung des von der Opposition dominierten Kongresses und des Obersten Gerichts.
Die Umsetzung des von Präsident Chávez vorgelegten Sozialplans beginnt am 26.2.; 70000 Soldaten und 80000 Staatsbedienstete sollen im Rahmen des Plan Bolívar 2000 dazu beitragen, durch Entwicklungsprojekte in den Bereichen Basisinfrastruktur, Straßenbau, Gesundheitsversorgung, Erziehung und Landwirtschaft den größten sozialen Mißständen zu begegnen und das Land zu entwickeln.
Das am 25.3. 1999 von Präsident Chávez vorgestellte Wirtschaftsprogramm beschränkt sich im wesentlichen auf die Formulierung allgemeiner gesamtwirtschaftlicher Zielgrößen.
Präsident Chávez, der am 17.2. ein Ermächtigungsgesetz gefordert hatte, erhält Ende März von Abgeordnetenhaus und Senat für 180 Tage gesetzgeberische Sondervollmachten für Maßnahmen zur Haushaltssanierung. Nach Chávez\' Drohung, den Ausnahmezustand auszurufen, gewährt ihm der Kongreß am 15.4. weitere Sondervollmachten auf wirtschaftlichem Gebiet. Um das hohe Defizit im Staatshaushalt (1998: über 6 % des BIP) zu senken, werden u.a. Ausgabenkürzungen vorgenommen, der Mindestlohn im öffentlichen Dienst zum 1.5. nur um 20 % auf 120000 Bolívar im Monat erhöht (Inflationsrate 1998: 35,8 %), am 14.5. eine 0,5 %ige Abgabe auf alle Banktransaktionen eingeführt sowie am 1.6. die bisherige 16,5 %ige Umsatzsteuer (Luxusgüter und Großhandel) durch eine 15,5 %ige Mehrwertsteuer abgelöst. Erfolge werden auch bei der Bekämpfung der Korruption bei Zoll und Steuerbehörden erzielt.
Bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung am 25.7. (Stimmbeteiligung 47 %) erringt Präsident Chávez einen weiteren großen Erfolg. Seine Anhänger erhalten mind. 120 der 128 zu vergebenden Mandate. Die indianischen Ethnien hatten bereits Tage zuvor ihre drei Vertreter bestimmt. Die Verfassunggebende Versammlung, für deren Einberufung sich bei einer auf Initiative von Chávez durchgeführten Volksabstimmung am 25.4. (Stimmbeteiligung 39,1 %) rund 90 % der Teilnehmer ausgesprochen hatten, tritt am 3.8. erstmals zusammen. Sie soll bis zum 3.11. ein neues Grundgesetz ausarbeiten; für den 7.11. ist ein Verfassungsreferendum vorgesehen. Nach dem Willen von Präsident Chávez soll die neue Verfassung u.a. die Amtszeit des Staatsoberhaupts von fünf auf sechs Jahre verlängern, eine direkte Wiederwahl des Präsidenten ermöglichen, dem Neoliberalismus eine Absage erteilen und die Einmischung politischer und wirtschaftlicher Kräfte aus dem Ausland verhindern. Es wird erwartet, daß das neue Grundgesetz die Stellung des Präsidenten und der Streitkräfte erheblich stärken wird. Die Verfassunggebende Versammlung bestätigt am 9.8. Chávez als Präsident, nachdem dieser sein Amt zur Verfügung gestellt hatte - eine rhetorische Geste. Obwohl das Oberste Gericht am 13.4. entschieden hatte, daß die Verfassunggebende Versammlung nicht das Recht habe, die bestehenden demokratischen Organe aufzulösen, gibt sich jenes von Anhängern des Präsidenten fast vollständig kontrollierte Gremium am 12.8. per Dekret Notstandsvollmachten; damit stellt es sich über alle anderen staatlichen Institutionen und gibt sich das Recht, diese zu reorganisieren und deren Befugnisse zu beschneiden bzw. zu suspendieren. Am 19.8. verhängt die Verfassunggebende Versammlung den Ausnahmezustand über das Justizwesen und ordnet eine Untersuchung aller Gerichte einschl. des Obersten Gerichts an. Das gesamte Justizsystem soll reformiert und korrupte Richter entlassen werden. Aus Protest gegen den Eingriff in die Autonomie des Justizwesens tritt die Vorsitzende des Obersten Gerichts, Cecilia Sosa Gómez, am 24.8. zurück. Mit einem weiteren Notstandsdekret der Verfassunggebenden Versammlung werden am 25.8. dem Parlament die meisten Befugnisse entzogen, darunter die Gesetzgebungskompetenz, und alle Sitzungen des von der Opposition dominierten Kongresses verboten; eine Untersuchungskommission soll die Tätigkeit der Abgeordneten überprüfen und Unregelmäßigkeiten aufdecken. Die Gewaltenteiligung ist damit de facto aufgehoben. Die innenpolitische Krise spitzt sich am 27.8. weiter zu: Sicherheitskräfte verwehren oppositionellen Abgeordneten mit Gewalt den Zugang zum Kongreßgebäude; vor dem Parlament kommt es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern von Chávez. Am 30.8. entzieht die Verfassunggebende Versammlung dem Parlament auch noch die letzten Kompetenzen.
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