Der am 13.12.2007 von den Staats- und Regierungschefs sowie den Außenministern der 27 EU-Staaten in Lissabon unterzeichnete Vertrag von Lissabon, durch den die erweiterte EU demokratischer, transparenter und handlungsfähiger werden soll, beinhaltet wesentliche Bestimmungen des an Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten Vertrags über eine Verfassung für Europa. Im Gegensatz zu diesem baut der Vertrag von Lissabon auf der Struktur der bestehenden Verträge auf; Verfassungsaspekte bleiben außer Betracht: Geändert werden der Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag) und der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag), der in »Vertrag über die Arbeitsweise der Union« umbenannt wird; beide Verträge sind rechtlich gleichrangig. Im Rahmen der am 23.7.2007 eröffneten Konferenz von Vertretern der Mitgliedstaaten (Regierungskonferenz), deren Mandat zur Reform der EU vom ER am 23.6. detailliert festgelegt worden war, hatten die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten am 19.10. in Lissabon Einvernehmen über den Vertrag von Lissabon erzielt. Diesem hatten zuletzt auch Italien und Polen zugestimmt: Italien wird im verkleinerten EP einen Sitz mehr erhalten als zunächst vorgesehen und damit genauso viele Mandate wie Großbritannien; Polen setzte weitere Zugeständnisse durch (Festschreibung eines Mechanismus, mit dem knappe Mehrheitsentscheidungen im Rat verzögert werden können, Ausnahmeregelung bei der EU-Grundrechtecharta und ständiger Generalanwalt beim EuGH, wenn die Zahl der Generalanwälte von acht auf elf erhöht wird). Demokratie und Grundrechteschutz werden gestärkt durch Ausweitung der Befugnisse des EP, direkte Einbindung der nationalen Parlamente in das Gesetzgebungsverfahren, Einführung einer europäischen Bürgerinitiative und Rechtsverbindlichkeit der Charta der Grundrechte der EU. Zu mehr Transparenz sollen u.a. beitragen: einheitliche Rechtspersönlichkeit der EU, Abschaffung der drei Pfeiler der EU, klarere Abgrenzung der Zuständigkeiten von EU und Mitgliedstaaten, Neuordnung des Systems der Rechtsinstrumente und Verpflichtung des Rats, bei Beratungen oder Abstimmungen über Gesetzgebungsentwürfe öffentlich zu tagen. Die Handlungsfähigkeit der EU soll verbessert werden v.a. durch eine deutliche Ausweitung der Bereiche, in denen der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen kann und durch institutionelle Reformen (Einführung der doppelten Mehrheit bei Abstimmungen in Rat und ER, Ernennung eines Präsidenten des ER und eines Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik sowie Verkleinerung der Kommission). Bei den Politikbereichen wurden v.a. die Bestimmungen zur GASP sowie zur Justiz- und Innenpolitik geändert; Neuerungen gibt es u.a. auch in den Bereichen Energie, Klimaschutz und Soziales. Die Entscheidungsverfahren zur Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit von EU-Staaten wurden erheblich modifiziert; sie wird auch im Bereich GASP einschl. GSVP möglich. Flexibilitätsinstrumente ermöglichen eine Weiterentwicklung der EU im Rahmen der Verträge ohne deren Änderung. Der Vertrag von Lissabon sieht u.a. folgende Neuerungen vor:� Die EU erhält Rechtspersönlichkeit. Sie tritt an die Stelle der EG, deren Rechtsnachfolgerin sie ist.� Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten von EU und Mitgliedstaaten gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung: Alle der EU nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten. Explizit genannt werden die Politikbereiche mit ausschließlicher Zuständigkeit der EU, mit geteilter Zuständigkeit und mit ergänzenden Tätigkeiten der EU; die Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten im Rahmen der EU und die GASP bilden eigene Kategorien.� Die Befugnisse des EP bei Rechtsetzung, Haushalt und Genehmigung internationaler Abkommen werden deutlich gestärkt. Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (entspricht dem bisherigen Mitentscheidungsverfahren; Rat und EP gleichberechtigt) wird auf weitere Politikbereiche ausgeweitet. Das EP wählt den vom ER unter Berücksichtigung der EP-Wahlen benannten Präsidenten der Kommission. Über die Anzahl der in den einzelnen EU-Staaten zu wählenden Abgeordneten des EP, das maximal 750 Abgeordnete zuzüglich des EP-Präsidenten hat und in dem die Bevölkerung degressiv proportional, jedoch mindestens mit sechs (bisher fünf) und höchstens mit 96 (bisher Deutschland 99) Sitzen je Mitgliedstaat vertreten sind, wird der ER vor den EP-Wahlen im Juni 2009 einstimmig auf Initiative des EP und mit dessen Zustimmung beschließen.� Die nationalen Parlamente erhalten über ein Frühwarnsystem und ein Klagerecht vor dem EuGH bei vermuteten Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip mehr Einfluss.� Der AdR erhält ein Klagerecht bei vermuteter Verletzung des Subsidiaritätsprinzips.� Bürgerinitiative: Mindestens eine Million EU-Bürger aus einer erheblichen Zahl von Mitgliedstaaten (Mindestzahl ist noch festzulegen) können die Kommission auffordern, für ein bestimmtes Thema einen Vorschlag für einen Rechtsakt auszuarbeiten.� Die Charta der Grundrechte der EU vom 7.12.2000 in der am 12.12.2007 in Straßburg von den Präsidenten des EP, des Rats und der Kommission unterzeichneten Fassung wird durch einen Querverweis im Vertrag von Lissabon rechtsverbindlich (Sonderregelungen für Großbritannien und Polen). Die Charta fasst in der EU anerkannte bürgerliche, politische, wirtschaftliche und soziale Rechte zusammen. Sie ist für alle Organe und Einrichtungen der EU bindend, für die Mitgliedstaaten jedoch nur bei Anwendung von EU-Recht.� Beschlussfassung im Rat: Deutlich ausgeweitet werden die Bereiche, in denen der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheiden kann. In Bereichen wie GASP, steuerliche Vorschriften, Familienrecht, Teilbereichen der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit in Strafsachen sowie bestimmten Aspekten von Sozial-, Umwelt- und Handelspolitik ist weiterhin Einstimmigkeit erforderlich, d.h. das Vetorecht der nationalen Regierungen bleibt erhalten. Auf bestimmten Gebieten, die noch der Einstimmigkeit im Rat unterliegen, kann durch einstimmigen Beschluss des ER zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit übergegangen werden. Für Mehrheitsentscheidungen in ER und Rat wird zum 1.11.2014 die sogenannte doppelte Mehrheit eingeführt: Eine qualifizierter Mehrheit ist erreicht, wenn mindestens 55% der Mitglieder zustimmen (72% bei Beschlüssen, die nicht auf Vorschlag der Kommission oder des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik zu fassen sind) und diese Mitgliedstaaten vertreten, die zusammen mindestens 65% der EU-Bevölkerung ausmachen. Für eine Sperrminorität sind mindestens vier Mitglieder des Rats erforderlich. Bis 31.4.2017 kann ein Mitglied des Rats eine Beschlussfassung mit der qualifizierten Mehrheit nach den bisherigen Bestimmungen des EG-Vertrags beantragen (Stimmengewichtung im Rat). Eine qualifizierte Minderheit - Mitglieder des Rats, die mindestens 75% (ab 1.3.2017: 55%) der EU-Bevölkerung oder der für eine Sperrminorität notwendigen Mitgliedstaaten vertreten - kann verlangen, dass über einen Rechtsakt eine angemessene Zeit weiter beraten wird (Ioannina-Klausel).� Der ER erhält einen Präsidenten. Dieser darf kein einzelstaatliches Amt ausüben. Er wird von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten mit qualifizierter Mehrheit für eine Amtszeit von zweieinhalb Jahren gewählt; einmalige Wiederwahl zulässig. Der ER-Präsident soll in Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der Kommission für größere Kontinuität sorgen als die derzeitige zwischen den EU-Staaten halbjährlich wechselnde Ratspräsidentschaft. Seine Kompetenzen sind beschränkt.� Die erste nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ernannte Kommission einschließlich ihres mit mehr Kompetenzen ausgestatteten Präsidenten und des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik besteht wie bisher aus einem Staatsangehörigen je Mitgliedstaat. Vom Amtsantritt der darauf folgenden Kommission an (voraussichtlich 1.11.2014) wird die Zahl der Kommissionsmitglieder auf zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten verringert, sofern der ER nicht einstimmig eine Änderung dieser Zahl beschließt; die Kommissionsmitglieder werden nach einem das demografische und geografische Spektrum aller EU-Staaten widerspiegelnden System der strikt gleichberechtigten Rotation zwischen den Mitgliedstaaten ausgewählt (einstimmiger Beschluss des ER).� Das neue Amt eines Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik vereint die derzeitigen Funktionen des Hohen Vertreters für die GASP und des für Außenbeziehungen
zuständigen Kommissars. Der vom ER mit qualifizierter Mehrheit mit Zustimmung des Kommissionspräsidenten ernannte Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik ist einer der stellv. Kommissionspräsidenten und Vorsitzender des Rats »Auswärtige Angelegenheiten«. Er leitet die GASP einschließlich GSVP, hat in diesen Bereichen Initiativrecht, führt sie im Auftrag des Rats durch und vertritt die EU. Unterstützt wird er von einem Europäischen Auswärtigen Dienst.� Der Gerichtshof der EU, bestehend aus Gerichtshof, Gericht (bisher: Gericht Erster Instanz) und dem Gericht beigeordneten Fachgerichten, erhält Zuständigkeit für den gesamten Bereich Justiz und Inneres.� Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP; bisher ESVP): Die Mitgliedstaaten verpflichten sich zur schrittweisen Verbesserung ihrer militärischen Fähigkeiten. Es wird die Möglichkeit einer allen EU-Staaten offen stehenden Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Rahmen der EU eingeführt. Aufgenommen wurde eine Beistandsklausel.� Für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird ein in weiten Teilen einheitlicher Rechtsrahmen eingeführt; in der Regel wird das ordentliche Gesetzgebungsverfahren angewendet. Bei der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und der polizeilichen Zusammenarbeit hat auch eine Gruppe von Mitgliedstaaten Initiativrecht.� Solidaritätsklausel: Wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer von Menschen verursachten Katastrophe betroffen ist, mobilisiert die EU alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel.� Der freiwillige Austritt eines Mitgliedstaats aus der EU wird erstmals geregelt.Der Vertrag von Lissabon kann nur in Kraft treten, wenn er von allen Mitgliedstaaten gemäß ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert worden ist. Bisher haben die Parlamente von 20 der 27 EU-Staaten für die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon gestimmt: Ungarn (17.12.2007), Malta (29.1.2008), Slowenien (29.1.), Rumänien (4.2.), Frankreich (7.2.), Bulgarien (21.3.), Polen (1./2.4.), Slowakei (10.4.), Portugal (23.4.), Dänemark (24.4.), Österreich (9.4. und 24.4.), Lettland (8.5.), Litauen (8.5.) Deutschland (24.4. und 23.5.), Luxemburg (29.5.), Estland (11.6.), Finnland (11.6.), Griechenland (11.6.), Großbritannien (11.3. und 18.6.) und Zypern (3.7.). In Deutschland und der Tschechischen Republik sind Verfassungsklagen gegen den Vertrag von Lissabon anhängig; in Großbritannien muss noch über eine Referendumsklage entschieden werden. In Irland, dem einzigen EU-Staat, in dem die Bevölkerung direkt über die Ratifizierung dieses Vertrags entscheiden konnte, stimmten am 12.6. in einer Volksabstimmung 53,4% der Teilnehmer gegen den neuen EU-Vertrag (Stimmbeteiligung 53%). Der ER war sich am 19./20.6. einig, dass mehr Zeit erforderlich ist, um die Motive für die Ablehnung zu analysieren und gemeinsam mit den übrigen EU-Staaten einen Ausweg zu suchen; der Ratifizierungsprozess in den anderen Mitgliedstaaten soll fortgesetzt und am 18.10. über das weitere Vorgehen beraten werden. Die Hoffnungen richten sich auf eine erneute Volksabstimmung in Irland; unklar ist derzeit noch, welche Zusätze zum Vertrag den Iren angeboten werden könnten. Den Vertrag von Nizza (2003) hatten die Iren erst in einer zweiten Volksabstimmung gebilligt.
|
|