FWA 99, Spalte 98
Die Nachwirkungen der Dutroux-Affäre 1996 prägen das gesellschaftliche Klima in Belgien auch im zweiten Folgejahr der Aufdeckung der Verbrechen einer Kinderschänderbande. Zu den von der Regierung in Aussicht gestellten tiefgreifenden institutionellen Konsequenzen aus den schweren Versäumnissen von Polizei und Justiz kommt es zunächst nicht.
Als einziger tritt der Polizeichef Christian de Vroom am 2.9. 1997 zurück.
Aus Protest gegen die Reformunwilligkeit des politischen Establishments werden neue Parteien gegründet, die sich auf die »weiße« außerparlamentarische Bürgerrechtsbewegung stützen. Die am 14.1. 1998 gegründete Partei Berg (Partei für neue Politik, PNP) um den Lehrer Paul Marchal, Vater eines der ermordeten Kinder, will als einzige Partei Belgiens sowohl in Flandern als auch in Wallonien kandidieren.
Der Dutroux-Untersuchungsausschuß des Parlaments kommt in seinem nach 18monatigen Ermittlungen am 17.2. 1998 verabschiedeten Bericht zu dem Schluß, Beweise für eine Komplizenschaft hochgestellter Persönlichkeiten mit Mitgliedern der Bande, der die Entführung von wenigstens sechs Kindern und die Ermordung von vier von ihnen zur Last gelegt wird, hätten sich nicht finden lassen. Polizei- und Justizapparat werden jedoch erschreckende Fehlleistungen und Versäumnisse bei den Ermittlungen angelastet. Den daraufhin von Teilen der Öffentlichkeit und den Eltern der Opfer verlangten Rücktritt der Regierung lehnt Ministerpräsident Jean-Luc Dehaene ab.
Der Skandal um den einige Stunden währenden Ausbruch des mutmaßlichen Kindermörders Dutroux aus der Untersuchungshaft am 23.4. 1998 führt am Tag darauf zum Rücktritt der Minister für Inneres und Justiz. Unter dem Druck der erneut aufgekommenen Debatte über die Notwendigkeit tiefgreifender Reformen wird am 24.5. 1998 eine neue Struktur des Polizei- und Justizapparats vereinbart, die bis zum Jahre 2004 abgeschlossen sein soll (Operation Octopus). Im Kern sieht sie die Fusion der bisher paramilitärisch organisierten Gendarmerie mit der Gemeindepolizei auf regionaler Ebene und die Schaffung einer nationalen Polizeibehörde vor. Die parteipolitisch neutrale Arbeit und Stellenbesetzung im Justizwesen soll ein von äußerer Beeinflussung unabhängiger Hoher Rat der Justiz gewährleisten.
Nach der Wahl Philippe Maystadts zum neuen Vorsitzenden der Christlich-Sozialen Partei Walloniens (PSC) tritt dieser als Finanzminister zurück; seine Nachfolge tritt am 21.6. Jean-Jacques Viseur an.
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