FWA 2000, Sp. 54
Die Entwicklung in der Russischen Föderation (RF) ist im Berichtszeitraum 1998 / 99 geprägt von einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise, der faktischen Zahlungsunfähigkeit der RF, drei Regierungswechseln, zahlreichen Umbesetzungen in der Präsidialverwaltung und bei Staatsunternehmen, einem Präsidenten, der gesundheitlich und politisch so schwach wie nie zuvor ist, sowie Korruptionsskandalen und Finanzaffären, in die auch (ehem.) Regierungsmitglieder, Mitarbeiter der Präsidialverwaltung sowie Präsident Boris Jelzin und seine Familie direkt verwickelt sein sollen.
Innenpolitik
Regierung Primakow: Nachdem die Staatsduma am 31.8. 1998 und am 7.9. in offenen Abstimmungen die Ernennung des seit 23.8. geschäftsführenden Regierungschefs Viktor Tschernomyrdin zum neuen Ministerpräsidenten ablehnt, verzichtet dieser auf eine erneute Kandidatur. Am 11.9. bestätigt die Staatsduma mit 317 gegen 63 Stimmen bei 15 Enthaltungen den bisherigen Außenminister und früheren Leiter des Auslandsgeheimdiensts Jewgenij Primakow als neuen Ministerpräsidenten, der sich für eine grundsätzliche Fortsetzung der Wirtschaftsreformen ausspricht; es müßten jedoch soziale Aspekte Vorrang vor einer strikten, auf die Senkung der Inflationsrate ausgerichteten Geldpolitik haben. In der von Präsident Jelzin bis Anfang Oktober ernannten neuen umstrukturierten Regierung, der nur noch zwei Liberale und mehrere Minister des vorherigen Kabinetts angehören, erhalten Kommunisten führende Posten. Neuer Außenminister wird Igor Iwanow, der bisherige Stellvertreter Primakows. Im Amt bleiben u.a. Verteidigungsminister Igor Sergejew, Innenminister Sergej Stepaschin, Finanzminister Michail Sadornow, Privatisierungsminister Farit Gasisullin und Justizminister Pawel Krascheninnikow.
An den landesweiten Demonstrationen und Kundgebungen gegen die wirtschaftliche und soziale Notlage am 7.10., zu denen die Kommunistische Partei (KP) und die Gewerkschaften aufgerufen hatten, beteiligen sich nach Angaben des Innenministeriums nur 615000 Menschen; die Gewerkschaften hatten 28 Mio. Teilnehmer angekündigt, die KP 40 Mio. Gefordert wird v.a. der Rücktritt von Präsident Jelzin und die Auszahlung der z.T. seit Monaten ausstehenden Löhne und Renten. Am Vortag hatte Ministerpräsident Primakow angekündigt, die Regierung habe Maßnahmen zur Normalisierung der Lebensumstände der Bevölkerung getroffen, und u.a. allen Angestellten des öffentlichen Sektors die Auszahlung ausstehender Gehälter versprochen.
Das Verfassungsgericht entscheidet am 5.11., daß Präsident Jelzin bei den Präsidentschaftswahlen 2000 nicht mehr kandidieren darf; seine derzeitige Amtszeit sei die zweite und damit letzte. Diese noch vor Monaten heftig umstrittene Frage hat angesichts Jelzins sehr schlechtem Gesundheitszustand ihre Brisanz völlig verloren.
Am 7.11. 1998, dem 81. Jahrestag der Oktoberrevolution, nehmen landesweit nur rund 150000 Menschen an den Kundgebungen teil, darunter etwa je 8000 in Moskau und St. Petersburg; die erwarteten Massendemonstrationen bleiben aus.
Die mutmaßlich politisch motivierte Ermordung der landesweit bekannten Politikern Galina Starowojtowa, Mitbegründerin der Reformbewegung Demokratisches Rußland und Abgeordnete der Staatsduma, am 20.11. in St. Petersburg löst eine Welle der Empörung über die zunehmende Kriminalität und scharfe Kritik an der herrschenden Gesetzlosigkeit aus. Über 10000 Menschen, darunter alle (ehem.) Ministerpräsidenten, nehmen am 24.11. an der Beisetzung teil.
Der am 4.3. 1999 als Exekutivsekretär der GUS entlassene Boris Beresowskij, der prominenteste der sog. »Oligarchen«, einer kleinen Gruppe politisch einflußreicher Financiers und Großunternehmer, kehrt am 18.4. aus Frankreich nach Moskau zurück, um sich den Ermittlungsbehörden zu stellen; er soll Auslandseinkünfte der Luftfahrtgesellschaft Aeroflot veruntreut haben. Zuvor hatte die Generalstaatsanwaltschaft den am 6.4. gegen ihn wegen des Verdachts auf Geldwäsche und illegaler Geschäftstätigkeit erlassenen Haftbefehl aufgehoben. Im Machtkampf zwischen Ministerpräsident Primakow und Beresowskij, der enge Beziehungen zur Familie von Präsident Jelzin haben soll, hatte der Regierungschef Anfang Februar mehrere Firmen, die zum Imperium des Unternehmers gehören, von Staatsanwaltschaft und Inlandsgeheimdienst u.a. wegen des Verdachts auf finanzielle Unregelmäßigkeiten und Steuerhinterziehung durchsuchen lassen.
Der Föderationsrat lehnt am 17.3. und am 21.4. erneut die von Präsident Jelzin beantragte Entlassung von Generalstaatsanwalt Jurij Skuratow ab. Am 22.6. erklärt das Oberste Gericht die Einleitung eines Strafverfahrens gegen den von Jelzin am 2.4. unter rechtlich fragwürdigen Umständen vom Dienst suspendierten Generalstaatsanwalt wegen Amtsmißbrauchs für rechtmäßig. Im Mittelpunkt der Anschuldigungen stehen vom staatlichen Fernsehsender RTR am 17.3. ausgestrahlte Videoaufnahmen, die Skuratow kompromittieren (Sex-Skandal). Der Generalstaatsanwalt hatte nach dem Amtsantritt von Ministerpräsident Primakow im Zusammenhang mit Korruption und Finanzaffären Ermittlungen u.a. gegen hohe Beamte der Präsidialverwaltung und Personen im engeren Umfeld von Präsident Jelzin und dessen Familie eingeleitet und am 1.2., unmittelbar bevor er unter dem Druck einflußreicher Politiker und Unternehmer »aus gesundheitlichen Gründen« seinen Rücktritt einreichte, der Zentralbank Unregelmäßigkeiten bei der Verwaltung der Währungsreserven und von Staatsvermögen vorgeworfen. Die Zentralbank ließ jahrelang einen Teil ihrer Währungsreserven von einer kleinen Offshore-Finanzgesellschaft auf der britischen Kanalinsel Jersey verwalten, u.a. um die Höhe der Währungsreserven zu manipulieren und um die Mittel dem Zugriff ausländischer Gläubiger zu entziehen.
Nach Zeitungsberichten von Ende August sollen in einen Korruptionsskandal um ein Schweizer Bauunternehmen, das hohe Beamte der Präsidialverwaltung, darunter Pavel Borodin, der Leiter der Immobilienabteilung des Kremls, bestochen haben soll, um staatliche Aufträge wie die Renovierung verschiedener Gebäude im Kreml und des Parlamentgebäudes, zu erhalten, auch Präsident Jelzin und seine Töchter Tatjana Djatschenko und Jelena Okulowa direkt verwickelt sein.
Regierung Stepaschin
Am 12.5. 1999 entläßt Präsident Jelzin Ministerpräsident Primakow und dessen Kabinett und ernennt den bisherigen Innenminister Stepaschin zum geschäftführenden Regierungschef. Der Regierung Primakow sei es nicht gelungen, die schwere Wirtschaftskrise zu überwinden. Die Staatsduma bestätigt am 19.5. 1999 mit 301 gegen 55 Stimmen den von Jelzin nominierten Stepaschin als neuen Ministerpräsidenten; zahlreiche Abgeordnete enthalten sich der Stimme oder bleiben der Abstimmung fern. In der von Präsident Jelzin zwischen 21.5. und 31.5. ernannten neuen Regierung sind Kommunisten auf wichtigen Posten nicht mehr vertreten. 14 Minister behalten ihre Ämter, darunter Außenminister Iwanow, Verteidigungsminister Sergejew, Justizminister Krascheninnikow, Wirtschaftsminister Schapowaljanz und die für Sozialpolitik zuständige stellv. Ministerpräsidentin Matwijenko. Die Kabinettsumbildung war von einem Machtkampf um die wirtschafts- und finanzpolitisch wichtigen Posten gekennzeichnet.
Der ehem. Ministerpräsident Tschernomyrdin wird am 30.6. zum Aufsichtsrats-Vorsitzenden von Gazprom, dem weltweit größten Erdgasproduzenten, gewählt (38,37 % der Aktien in Staatsbesitz).
Die von der KP initiierte und seit Monaten diskutierte Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsident Jelzin scheitert am 15.5. in der Staatsduma, da in keinem der fünf Anklagepunkte die erforderliche Zweidrittelmehrheit aller 450 Abgeordneten erreicht wird; die Zustimmung liegt bei offener Abstimmung zwischen 236 und 284 Stimmen. Die Abgeordneten der Partei »Unser Haus Rußland« des ehem. Ministerpräsidenten Tschernomyrdin und die Liberaldemokraten bleiben den Abstimmungen fern. Jelzin waren u.a. vorgeworfen worden: Verfassungsbruch im Zusammenhang mit der Auflösung der UdSSR am 8.12. 1991, gewaltsame Auflösung des Volksdeputiertenkongresses im Oktober 1993, Tschetschenien-Krieg (1994-96), Schwächung der Verteidigungsfähigkeit des Landes durch Verringerung der Streitkräfte.
Regierung Putin
Präsident Jelzin entläßt am 9.8. 1999 Ministerpräsident Stepaschin und ernennt Wladimir Putin, seit 25.7. 1998 Leiter des Föderalen Sicherheitsdiensts FSB, der wichtigsten Nachfolgeorganisation des ehem. KGB, und seit 29.3. 1999 auch Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats, zum geschäftsführenden Regierungschef. Die Staatsduma bestätigt am 16.8. mit 232 gegen 84 Stimmen bei 17 Enthaltungen Putin als neuen Ministerpräsidenten, der fünfte binnen 18 Monaten. In dem neuen, nur auf sehr wenigen Posten veränderten Kabinett wird Jurij Tschaika, der am 29.7. von seinem Amt als geschäftsführender Generalstaatsanwalt entbunden worden war, neuer Justizminister. Der ehem. KGB-Auslandsagent Putin, wie sein Vorgänger Stepaschin ein loyaler Gefolgsmann Jelzins und dessen Wunschkandidat als Nachfolger im Präsidentenamt, verspricht die Schaffung von Ordnung und Disziplin, die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit des Landes und die Durchführung freier und fairer Wahlen.
Parteien
Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow verbietet einen für den 19.12. 1998 in der Hauptstadt geplanten Parteitag der größten und am besten organisierten rechtsradikalen, nur auf lokaler Ebene registrierten Partei »Russische Nationale Einheit« (RNE); die Zahl der RNE-Mitglieder wird landesweit auf rund 12000 geschätzt. Am 19.4. 1999 ordnet das Gericht des Moskauer Stadtbezirks Butyrski die Auflösung der regionalen RNE-Gruppe wegen verfassungswidriger Tätigkeiten an.
Der Vorsitzende der an Einfluß verlierenden Partei »Unser Haus Rußland«, der ehem. Ministerpräsident Tschernomyrdin, setzt am 24.12. 1998 die Ablösung seines Kritikers Schochin, ein gemäßigter Reformer, als Fraktionsvorsitzender in der Staatsduma durch. Auf einem Parteitag Ende April 1999 wird Tschernomyrdin als Parteivorsitzender bestätigt.
Die von Moskaus Bürgermeister Luschkow ins Leben gerufene nationalistisch-zentristische Partei Vaterland (Otetschestwo) und die von anderen einflußreichen Präsidenten bzw. Gouverneuren von Föderationssubjekten gegründete, ideologisch nicht gebundene Bewegung »Ganz Rußland« (Wsja Rossija), deren Gründungskongresse am 19.12. 1998 bzw. Mitte Mai 1999 stattfinden, verständigen sich am 3.8. auf die Bildung des Wahlbündnisses »Vaterland - Ganz Rußland«; Spitzenkandidat dieses Wahlblocks bei den Wahlen zur Staatsduma am 19.12. ist der populäre ehem. Ministerpräsident Primakow. Sowohl Luschkow als auch Primakow gelten als aussichtsreiche Bewerber bei den Präsidentschaftswahlen im Juli 2000. Auf einem Parteitag der Agrarpartei beschließen die Delegierten am 27.8. 1999 mit 252 gegen 115 Stimmen, das Bündnis mit der KP zu verlassen und sich dem Wahlblock »Vaterland - Ganz Rußland« anzuschließen.
Der frühere Ministerpräsident Stepaschin erklärt am 21.8. seine nach seiner Absetzung als Regierungschef begonnenen Verhandlungen zur Bildung eines von ihm angeführten rechtszentristischen Wahlbündnisses aus den Parteien bzw. Bewegungen aller ehem. Ministerpräsidenten ausgenommen Primakow für gescheitert. Am 24.8. kündigen die Bewegung »Neue Kraft« des früheren Regierungschefs Kirijenko und die Bewegung »Rechte Sache« der Reformer Boris Nemzow, Irina Chakamada und Fjodorow die Bildung des Wahlblocks »Union der Rechten Kräfte« an, ein Sammelbecken von derzeit 16 Parteien und Bewegungen.
Wirtschaft, Währung, Soziales
Die sich seit Herbst 1997 zuspitzende Finanzkrise erreichte am 17.8. 1998 mit der Freigabe des Rubels und der Einstellung des Schuldendienstes auf in Rubel denominierte Staatsanleihen mit Fälligkeiten bis Ende 1999 ihren vorläufigen Höhepunkt: Die RF ist faktisch zahlungsunfähig. Mit der Abwertung des Rubels und dem Zusammenbruch der inländischen Finanzmärkte endete abrupt die bisher längste Stabilisierungsphase seit dem Zusammenbruch der UdSSR, alle Hoffnungen auf eine beginnende wirtschaftliche Erholung wurden zunichte gemacht.
Der seit 1990 andauernde Rückgang des realen BIP, z.T. mit zweistelligen Jahresraten, setzte sich 1998 mit einem Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Aktivitäten um 4,6 % fort (1. Halbjahr 1999: -3 %). Die Industrieproduktion, verringerte sich 1998 um 5,2 % (1. Halbjahr 1999: +3,1 %; 1990-1998: -53,8 %). Die landwirtschaftliche Produktion ging nach einer schlechten Ernte, u.a. eine Folge von Dürre und Überschwemmungen, um 12,3 % zurück. Die Arbeitslosenquote liegt seit April 1999 bei 14,2 %. Die Inflationsrate stieg im September 1998 als Folge der Rubelabwertung sprunghaft an; Ende 1998 lag sie bei 84,4 % (Jahresdurchschnitt 1998: 27,8 %). Die soziale Lage weiter Bevölkerungskreise hat sich seit August 1998 erneut deutlich verschlechtert. Die Bevölkerung büßte im Zuge der durch Abwertung und Umstrukturierung von Staatsanleihen ausgelösten Bankenkrise erhebliche Ersparnisse ein. Das verfügbare Realeinkommen lag im ersten Halbjahr 1999 um 25,6 % unter dem entsprechenden Vorjahreszeitraum (6 / 1999: -22,9 %). Nur die traditionelle Selbstversorgung mildert die Versorgungsengpässe. Im 1. Halbjahr 1999 lag das Einkommen von 51,7 Mio. Personen (rund 35 % der Bevölkerung) unter dem Existenzminimum von monatlich 872 Rbl (rd. 35 US- $); die reale Rente lag im Mai 1999 um 48,6 % unter dem entsprechenden Vorjahreszeitraum. Allerdings findet ein Großteil der wirtschaftlichen Aktivitäten in der Schattenwirtschaft statt. Der Anteil der Tauschgeschäfte im Binnenmarkt soll auf 85 % des Gesamthandels gestiegen sein.
Die Lohnrückstände, die am 1.10. 1998 mit 88 Mrd. Rbl ihren bisher höchsten Stand erreicht hatten, betrugen am 1.7. 1999 59 Mrd. Rbl (-33 % gegenüber 1.10. 1998; -23 % gegenüber 1.1. 1999); davon entfallen 25 % auf den öffentlichen Dienst und 75 % auf staatliche und private Unternehmen. Die Rückstände bei den Renten lagen Ende Juli 1999 bei 6,9 Mrd. Rbl (-70 % gegenüber 1.10. 1998).
Die Zahlungsmoral ist weiterhin schlecht. Die Steuerschulden der Unternehmen betrugen am 1.4. 1999 239 Mrd. Rbl. Die stark zunehmenden Gesamtverbindlichkeiten großer und mittlerer Unternehmen und Institutionen beliefen sich am 1.4. auf 3110 Mrd. Rbl, davon 1416 Mrd. Rbl überfällige Verbindlichkeiten von 72120 Unternehmen.
Die Wirtschaft wird zunehmend von der organisierten Kriminalität durchdrungen. Nach Schätzungen der Moskauer Staatsanwaltschaft werden etwa die Hälfte aller wirtschaftlicher Aktivitäten von mafiaartigen Vereinigungen kontrolliert, darunter Staatsbetriebe, Aktiengesellschaften und Banken. Auch Korruption ist weit verbreitet.
Der von Staatsduma und Föderationsrat am 5.2. mit 308 gegen 58 Stimmen bei sechs Enthaltungen bzw. am 17.2. mit 130 gegen 18 Stimmen bei drei Enthaltungen gebilligte und von Präsident Jelzin am 22.2. unterzeichnete föderale Staatshaushalt 1999 sieht Einnahmen von 474 Mrd. Rbl und Ausgaben von 575 Mrd. Rbl vor; die dem Etatentwurf zugrunde liegenden Annahmen in bezug auf BIP-Rückgang, Inflationsrate und Rubelkurs sind jedoch unrealistisch. Zudem sieht der Budgetentwurf für die Bedienung der Auslandsschulden nur 9,5 Mrd. US- $ vor (fällig 1999: 17,5 Mrd. US- $ ohne privaten Sektor), und neue internationale Finanzhilfen von rund 9 Mrd. US- $ werden vorab als Einnahmen verbucht. IWF, Weltbank und bilaterale Geber haben aber im Zuge der Finanzkrise im August 1998 ihre Finanzhilfen ausgesetzt. Der Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten ist weitgehend verschlossen.
Trotz Vertrauensbruchs und Zweifeln in bezug auf Reformwillen bzw. Durchsetzungsfähigkeit der Regierung bewilligt der IWF, dessen Verhalten gegenüber der RF seit langem mehr politischen als wirtschaftlichen Kriterien unterliegt, am 28.7. einen binnen 17 Monaten auszuzahlenden Beistandskredit von 3,3 Mrd. SZR (4,5 Mrd. US- $). Eine erste Tranche von 471 Mio. SZR wird sofort freigegeben; die Mittel werden jedoch nicht nach Moskau überwiesen, sondern direkt zur Bedienung fälliger Verbindlichkeiten der RF gegenüber dem IWF verwendet. Als Vorleistung für die Wiederaufnahme der vor einem Jahr ausgesetzten Finanzhilfe hatte die Staatsduma im Rahmen eines mit dem IWF am 28.4. grundsätzlich vereinbarten Wirtschaftsprogramms mehrere Gesetze, die zu einer Erhöhung der Staatseinnahmen beitragen sollen, und ein Gesetz zur Umstrukturierung des schwer angeschlagenen Bankensektors verabschiedet. Nach Angaben von Interfax haben bis 1.7. 1999 sieben der ehemals 25 größten Banken ihre Lizenz verloren; weitere fünf können ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen. Die Weltbank, die Mitte Juli der Wiederaufnahme ihre im Zuge der Finanzkrise suspendierten Auszahlungen von Kredittranchen für Reformen der sozialen Sicherungssysteme (250 Mio. US- $) und für die Umstrukturierung des Kohlesektors (400 Mio. US- $) zugestimmt hatte, gibt am 29.7. auch die Fortsetzung der Strukturanpassungshilfen (bis Ende 2000: 1,2 US- $) bekannt. Der IWF-Kredit macht zudem den Weg frei für offizielle Umschuldungsverhandlungen mit den im Pariser Club zusammengeschlossenen Gläubigerstaaten und den im Londoner Club zusammenfaßten westlichen Gläubigerbanken, gegenüber denen im Zusammenhang mit den Auslandsverbindlichkeiten der ehem. UdSSR (39 bzw. 32 Mrd. US- $) Zahlungsrückstände bestehen. Der Pariser Club gesteht am 1.8. der RF als Interimslösung eine Umstrukturierung des zwischen August 1998 und Ende 2000 fälligen Schuldendienstes für die Altschulden zu (8,1 Mrd. US- $); erst im Herbst 2000, d.h. nach den Präsidentschaftswahlen, sollen Verhandlungen über die von der RF angestrebte umfassende Umschuldung der Auslandsverbindlichkeiten aufgenommen werden.
Ein am 6.8. auf Druck des IWF veröffentlichter Untersuchungsbericht einer internationalen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft über die Finanztransaktionen zwischen der Zentralbank und ihrer Tochtergesellschaft Financial Management Company (Fimaco) auf der britischen Kanalinsel Jersey, einer Steueroase, bestätigt u.a., daß die Zentralbank den IWF Mitte 1996 bewußt falsch über die Höhe der Währungsreserven informierte, um die mögliche Verschiebung der Auszahlung von Kredittranchen zu verhindern, und daß die Zentralbank 1,2 Mrd. US- $ über die Fimaco in hochverzinslichen kurzfristigen russischen Staatsanleihen (GKO) investierte.
Vor dem Hintergrund eines Geldwäsche-Skandals, bei dem über die Konten von zwei US-Banken über 15 Mrd. US- $ geflossen sein sollen und in den nach Behauptung der Zeitung USA Today nicht nur die Mafia, sondern auch (ehem.) russische Regierungsmitglieder sowie Präsident Jelzins Tochter Tatjana verwickelt sein sollen, beauftragt der IWF Ende August eine internationale Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, die Offshore-Aktivitäten der russischen Zentralbank zu untersuchen. Nach Angaben von IWF und US-Regierung gibt es bisher keine Beweise für die Veruntreuung von Geldern des IWF oder des US-Nahrungsmittelprogramms.
Die drastische Abwertung des Rubels, die zu einer Importsubstitution führte, und die höheren Weltmarktpreise für Erdöl und Erdgas führten im 1. Halbjahr 1999 zu einer gewissen Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage, allerdings auf einem extrem niedrigen Niveau. Der Rubel verlor zwischen 17.8. 1998 und März 1999 gegenüber dem US- $ rund 75 % seines Werts; infolge administrativer Beschränkungen der Rubel-Konvertibilität und Stützungskäufen der Zentralbank ist der Wechselkurs des Rubels seither relativ stabil (24-25 Rbl je US- $). Die Kapitalflucht, die auf kumuliert bis zu 200 Mrd. US- $ geschätzt wird und gegen die bisher keine effektiven Maßnahmen ergriffen wurden, hält an. Angesichts der bevorstehenden Wahlen zur Staatsduma (17.12. 1999) und der Präsidentschaftswahl (Juli 2000) sind unpopuläre, aber notwendige Maßnahmen zur Überwindung der Wirtschaftskrise wenig wahrscheinlich.
Kommunalwahlen in St. Petersburg
Bei den von zahlreichen Manipulationen gekennzeichneten und von Gewalttaten überschatteten Wahlen zum Stadtparlament von St. Petersburg am 6.12. 1998 und den Stichwahlen am 20.12. (Wahlbeteiligung 40,6 % bzw. 31,8 %) können sich erneut die demokratisch und marktwirtschaftlich orientierten Kräfte durchsetzen: Der Wahlblock des Reformpolitikers Jurij Boldyrew erhält 15 der 50 Mandate und der Reformblock Jabloko des liberalen Ökonomen Grigorij Jawlinskij 8; auf die KP, die landesweit größte Partei, entfallen nur 5 Sitze. Unabhängige Bewerber erringen 20 Mandate.
Der ehem. Bürgermeister von St. Petersburg (1991-96), Anatolij Sobtschak, gegen den wegen Bestechung und Amtsmißbrauchs ermittelt wird, kehrt Mitte Juli 1999 nach fast zweijährigem Exil in Frankreich nach St. Petersburg zurück.
Menschenrechte
Das Verfassungsgericht untersagt am 2.2. 1999 die Verhängung der Todesstrafe bis auf weiteres. Bis zum 3.6. wandelt Präsident Jelzin per Dekret alle Todesurteile in lebenslange oder langjährige Haftstrafen um. Im Oktober 1998 gab es nach Angaben des Justizministeriums 839 zum Tode Verurteilte. Die Abschaffung der seit August 1996 aufgrund eines von Jelzin verhängten Moratoriums nicht mehr vollstreckten Todesstrafe ist angesichts der zunehmenden Kriminalität umstritten. Präsident Jelzin fordert am 6.8. 1999 die Staatsduma auf, das die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergänzende sechste Zusatzprotokoll zur Abschaffung der Todesstrafe zu ratifizieren. Die RF hatte sich vor ihrer Aufnahme in den Europarat am 28.2. 1996 zur Abschaffung der Todesstrafe binnen drei Jahren verpflichtet.
Die Staatsduma billigt am 18.6. 1999 ein von der Regierung zur Entlastung der chronisch überfüllten Gefängnisse eingebrachtes Gesetz, das eine Amnestie für rund 94000 Häftlinge vorsieht. In den berüchtigten überfüllten Gefängnissen sitzen derzeit über eine Million Häftlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen.
Hochverratsprozesse
In St. Petersburg beginnt am 20.10. 1998 ein Hochverratsprozeß gegen den ehem. Kapitän der Nordmeerflotte und Umweltschützer Alexander Nikitin; er soll in einem Bericht der norwegischen Umweltorganisation Bellona über die potentiellen Risiken der radioaktiven Verschmutzung der Region durch die Nordmeerflotte Militärgeheimnisse verraten haben. Ausgemusterte Atom-U-Boote wurden in der Barentssee versenkt oder lagern auf der Halbinsel Kola unter freiem Himmel.
Das Militärgericht der Pazifikflotte in Wladiwostok verurteilt am 20.7. 1999 den wegen Hochverrats angeklagten Fregattenkapitän und Umweltschützer Grigorij Pasko wegen Amtsmißbrauchs zu drei Jahren Haft; da Pasko bereits seit November 1997 in Untersuchungshaft sitzt, wird er auf der Grundlage eines Amnestiegesetzes sofort auf freien Fuß gesetzt. Der Reporter der Militärzeitung Bojewaja Wachta (Kampfeswacht) hatte über die Umweltskandale der russischen Pazifikflotte berichtet und japanische Medien bei Recherchen über die Verklappung von Atommüll und Munition auf offener See unterstützt.
Situation der Streitkräfte
Nach Angaben von Präsident Jelzin vom 28.12. 1998 wurde die Truppenstärke der Streitkräfte wie geplant auf 1,2 Mio. Soldaten reduziert. Die Armeereform komme jedoch nur sehr langsam voran, und die Finanzierung der Armee stelle weiterhin ein Problem dar. Am 15.11. hatte der Gouverneur von Krasnojarsk, der ehem. General Alexander Lebed, vor den sozialen Folgen der Armeereform gewarnt; die entlassenen Armeeangehörigen hätten weder Wohnung noch Geld noch Ausbildung.
Wegen der knappen Finanzmittel hat sich der Zustand der Streitkräfte 1998 erneut verschlechtert. Es fehlt u.a. an Ersatzteilen, neuen Waffen und Ausrüstung sowie Nahrungsmitteln; Soldaten und Offiziere warten z.T. seit Monaten auf ihren Sold. Die Zahl der Deserteure und die Selbstmorde von Soldaten und Offizieren sowie Disziplinlosigkeit, Willkür, Mißhandlungen und Korruption nehmen zu.
Außen- und Sicherheitspolitik
USA: Der Besuch von US-Präsident Bill Clinton vom 1.-2.9. 1998 in Moskau ist von der schweren Finanzkrise und dem innenpolitischen Machtkampf um den neuen Ministerpräsidenten überschattet. Präsident Jelzin verspricht eine grundsätzliche Fortsetzung der marktwirtschaftlichen Reformen, jedoch sei vorübergehend eine stärkere Rolle des Staats in der Wirtschaft erforderlich. Clinton sichert weitere Unterstützung für den Reformprozeß in der RF zu, sagt aber keine Finanzhilfen zu. Die am 2.9. von den Präsidenten Clinton und Jelzin unterzeichneten beiden Abkommen über die Vermeidung von Zwischenfällen mit nuklearen Waffen beinhalten u.a. den Austausch von Frühwarnungen über Raketenstarts; beide Seite verpflichten sich zudem, je 50 t Plutonium für die Herstellung von Waffen unbrauchbar zu machen. Der Besuch von US-Außenministerin Madeleine Albright vom 25.-26.1. 1999 in Moskau steht im Zeichen von Meinungsverschiedenheiten v.a. in bezug auf die Krise im Irak, die Beilegung des Konflikts im Kosovo, Rüstungskontrolle und die Politik gegenüber dem Iran. Trotz des massiven Drucks der USA wird die RF das Kernkraftwerk Bushehr (Iran) fertigstellen.
Die von den Präsidenten Clinton und Jelzin am 20.6. in Köln vereinbarten neuen Gespräche über atomare und konventionelle Abrüstung werden vom 18.-20.8. in Moskau aufgenommen. Vertreter beider Staaten bekräftigen ihren Willen zu einer weiteren Verringerung der strategischen Atomwaffen. Voraussetzung für Verhandlungen über ein neues Abkommen zur weiteren Verringerung der Zahl der strategischen atomaren Gefechtsköpfe beider Seiten (START-III) ist jedoch die Ratifizierung des 1993 unterzeichneten und 1996 von den USA ratifizierten START-II-Vertrags durch die Staatsduma.
Japan
Während des Aufenthalts von Keizo Obuchi vom 11.-13.11. 1998 in Moskau, dem ersten offiziellen Besuch eines Ministerpräsidenten Japans seit 1973, wird die Absicht beider Staaten bekräftigt, bis 2000 einen Friedensvertrag zu unterzeichnen. Der Territorialkonflikt um vier ehemals japanische, 1945 von der UdSSR besetzte Inseln (»südliche Kurilen«), die Japan beansprucht, hat bisher den Abschluß eines Friedensvertrags, der auch formal den Zweiten Weltkrieg zwischen den beiden Staaten beenden würde, verhindert.
VR China
Während ihres sechsten Gipfeltreffens verabschieden der Staats- und Parteichef der VR China, Jiang Zemin, und Präsident Jelzin am 23.11. 1998 in Moskau eine gemeinsame Deklaration über den Verlauf der rund 4300 km langen chinesisch-russischen Grenze; die Demarkation der 55 km langen gemeinsamen Westgrenze sei abgeschlossen. Im Mittelpunkt des Besuchs des chinesischen Ministerpräsidenten Zhu Rongji vom 24.-27.2. 1999 in Moskau steht der Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen; die strategische Partnerschaft soll gefestigt werden.
Indien
Ministerpräsident Primakow, der vom 21.-22.12. 1998 anstelle des erkrankten Präsidenten Jelzin nach Delhi reist, schlägt zu Beginn seines Aufenthalts die Bildung einer strategischen Allianz zwischen der VR China, Indien und der RF vor, die Frieden und Stabilität in der Region sichern soll. Unterzeichnet werden u.a. ein Abkommen über die Erweiterung und Verlängerung der militärisch-technischen Zusammenarbeit bis zum Jahr 2010 sowie mehrere Vereinbarungen im wirtschaftlichen Bereich; die Handelsbeziehungen sollen ausgebaut werden. Indien ist der größte Rüstungskunde der RF; etwa 75 % der Ausrüstung der indischen Arme kommt aus der RF oder wird in Indien in russischer Lizenz hergestellt.
Ukraine
Staatsduma und Föderationsrat ratifizieren am 25.12. 1998 bzw. 17.2. 1999 mit 244 gegen 30 Stimmen bzw. mit 106 gegen 25 Stimmen bei 17 Enthaltungen den am 31.5. 1997 unterzeichneten und vom Parlament der Ukraine am 14.1. 1998 ratifzierten russisch-ukrainischen Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft. Darin anerkennen und achten die RF und die Ukraine die staatliche Souveränität und die territoriale Integrität des jeweils anderen Staats; beide Seiten verzichten auf Gewalt und deren Androhung. Damit gibt die RF endgültig alle Ansprüche auf die Halbinsel Krim und den Hafen Sewastopol auf. Am 18.6. 1999 ratifiziert die Staatsduma mit 260 gegen 19 Stimmen bei einer Enthaltung die drei mit der Ukraine am 28.5. 1997 unterzeichneten Abkommen zur Aufteilung der ehem. sowjetischen Schwarzmeerflotte und der mit ihr verbundenen Infrastruktureinrichtungen sowie zu den Stationierungsbedingungen des russischen Teils der Flotte in der Ukraine.
Kosovokonflikt
Wegen der bevorstehenden NATO-Luftangriffe auf Serbien bricht Ministerpräsident Primakow in der Nacht auf den 24.3. 1999 seinen Flug in die USA ab und kehrt nach Moskau zurück. Regierung und Parlament lehnen den NATO-Militäreinsatz im Kosovo ab und fordern wiederholt die sofortige Einstellung der NATO-Luftangriffe; sie setzen auf eine politische Lösung. Die RF ist traditionell mit den Serben verbunden. Der von Präsident Jelzin am 14.4. zu seinem Sonderbeauftragten für den Balkan ernannte ehem. Ministerpräsident Tschernomyrdin bemüht sich um eine politische Lösung des Konflikts. Am 11.6., einen Tag nach der Aussetzung der NATO-Luftangriffe auf Jugoslawien und einen Tag vor dem Beginn der Verlegung erster NATO-Truppen in den Kosovo, treffen überraschend rund 200 russische Soldaten auf dem Flughafen von Pristina ein. Eine zwischen Vertretern von NATO und RF am 5.7. erzielte Einigung über die Rolle der russischen Soldaten in der internationalen Kosovo-Friedenstruppe (KFOR) sieht u.a. vor, daß das russische Kontingent von 3616 Personen, dessen Entsendung der Föderationsrat am 25.6. ohne Gegenstimmen billigte, auf die Sektoren der USA, Deutschlands und Frankreichs aufgeteilt wird und die RF das Kommando über den Flughafen von Pristina erhält; für die Kontrolle des Flugverkehrs ist jedoch die NATO zuständig. Die RF konnte sich mit ihrer Forderung nach einem eigenen Sektor nicht durchsetzen. Die Beziehungen zur NATO, die von Präsident Jelzin am 24.3. unmittelbar nach dem Beginn der NATO-Luftangriffe auf Serbien suspendiert worden waren, werden am 23.7. mit einem Treffen des Ständigen Gemeinsamen NATO-Rußland-Rats auf Botschafterebene wieder aufgenommen; vereinbart werden gemeinsame Anstrengungen zur Verbesserung der Sicherheitslage im Kosovo.
Föderationssubjekte im Nordkaukasus
Die Sicherheitslage in den zur RF gehörenden Republiken im Nordkaukasus gibt wegen weit verbreiteter Gewalttätigkeit weiterhin Anlaß zu Besorgnis. In Tschetschenien und den angrenzenden Republiken, v.a. in Dagestan, kommt es im Berichtszeitraum 1998 / 99 regelmäßig zu Gewalttaten und Entführungen, darunter russische Regierungsvertreter und Soldaten sowie Ausländer. Hintergrund sind neben gewöhnlicher Kriminalität Machtkämpfe verschiedener Clans und bewaffneter, autonom agierender Gruppierungen, ethnische und religiöse Rivalitäten, territoriale Konflikte und die äußerst schwierige wirtschaftliche Situation. Im August 1999 spitzt sich die Lage im Nordkaukasus zu.
Tschetschenien
Die Lage in der wirtschaftlich zerrütteten, nach Unabhängigkeit strebenden Republik Tschetschenien ist gekennzeichnet durch Gewalt und Kriminalität sowie einem innenpolitischen Machtkampf zwischen dem gewählten, als gemäßigt geltenden Präsidenten Aslan Maschadow, der nur Teile der Republik kontrolliert, und Feldkommandanten, v.a. Schamil Bassajew und Salman Radujew, die beide durch blutige Geiselnahmen im Juni 1995 bzw. im Januar 1996 während des Tschetschenien-Kriegs (1994-96) bekannt wurden. Entführungen, meist zur Erpressung von Lösegeld, sind an der Tagesordnung. Nach UN-Angaben sollen sich Mitte 1999 rund 800 Personen in Geiselhaft befinden, darunter zwei Ausländer.
Präsident Maschadow entläßt am 1.10. die gesamte Regierung und die Leiter aller staatlichen Behörden und Organisationen.
Der am 29.9. in Dschochar-Chala (ehem. Grosny) verschleppte Leiter der Wirtschaftsabteilung der russischen Vertretung in Tschetschenien, Akmal Saidow, wird am 3.10. an der tschetschenisch-inguschetischen Grenze ermordet aufgefunden. Ein am 29.1. in Wladikawkas, der Hauptstadt Nordossetiens, verschleppter französischer Mitarbeiter des UNHCR wird am 12.12. im Grenzgebiet zwischen Tschetschenien und Inguschetien von einem russischen Sonderkommando befreit.
Das Parlament verhängt am 15.12. für zunächst einen Monat den Ausnahmezustand über Tschetschenien; die von Präsident Maschadow im Kampf gegen die zunehmende Kriminalität am 12.12. angeordnete Teilmobilmachung der Streitkräfte wird vom Parlament abgelehnt.
Unter dem Druck seiner innenpolitischen Widersacher ordnet Präsident Maschadow am 3.2. 1999 per Dekret die umfassende Einführung des islamischen Rechts (Scharia) an; Parlament und Muftirat, die religiöse Aufsichtsbehörde, sollen die Gesetzgebung anpassen und eine neue Verfassung ausarbeiten. Der am 9.2. von Gegnern Maschadows gebildete islamische Rat (Schura), der sich als oberstes Regierungsorgan versteht, wählt Mitte Februar Bassajew zu seinem Vorsitzenden.
Die Entführung des Repräsentanten des russischen Innenministeriums in Tschetschenien, Generalmajor Gennadij Schpigun, auf dem Flughafen von Dschochar-Chala am 5.3. führt zu einer Zuspitzung der Lage: Am 7.3. werden alle in Tschetschenien noch verbliebenen Mitarbeiter der russischen Regierung und der Präsidialverwaltung abgezogen und in die nahegelegene nordossetische Stadt Mosdok, den Standort einer großen russischen Militärbasis, gebracht. Zudem werden die Truppen des russischen Innenministeriums im Nordkaukasus in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Auch in Nordossetien werden die Sicherheitsvorkehrungen verschärft.
Präsident Maschadow entgeht am 21.3. einem weiteren Bombenanschlag im Zentrum von Dschochar-Chala unverletzt.
Der neuseeländische Delegierte des Internationalen Komitées vom Roten Kreuz (IKRK), Geraldo Cruz Ribeiro, der am 15.5. in Naltschik, der Hauptstadt der zur RF gehörenden und bisher als relativ sicher geltenden Republik Kabardino-Balkarien, verschleppt worden war, wird am 20.7. von russischen und inguschetischen Einheiten befreit. Nach der Entführung hatte das IKRK seine Aktivitäten im Nordkaukasus suspendiert und vier seiner neun ausländischen Delegierten von Naltschik nach Moskau verlegt; im September sollen auch die letzten ausländischen IKRK-Delegierten aus Naltschik abgezogen werden.
Wegen der Überfälle tschetschenischer Rebellen auf russische Posten in benachbarten Kaukasusrepubliken ordnet der Innenminister der RF, Ruschailo, am 3.7. Präventivschläge gegen deren Stützpunkte in der Grenzregion an. Zwei Tage darauf fliegen russische Soldaten erstmals seit dem Ende des Tschetschenien-Kriegs Angriffe gegen mutmaßliche Rebellenstützpunkte in dieser Kaukasusrepublik.
Vor dem Hintergrund der Kämpfe in der Republik Dagestan bombardieren russische Streitkräfte am 14.8. und 26.8. mutmaßliche Stützpunkte islamistischer Rebellen in Tschetschenien. Am 16.8. verhängt Präsident Maschadow den Ausnahmezustand.
Dagestan
Bei einem Sprengstoffanschlag am 4.9. 1998 in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala werden 17 Menschen getötet und 58 weitere verletzt. Als Urheber und Hintermänner der seit Monaten zunehmenden terroristischen Aktivitäten werden offiziell von der Nachbarrepublik Tschetschenien aus operierende extremistische Islamisten vermutet.
Der seit langem andauernde Kleinkrieg entlang der dagestanisch-tschetschenischen Verwaltungsgrenze eskaliert im August 1999. Mehrere hundert islamistische Rebellen aus Tschetschenien unter Führung der Feldkommandanten Bassajew und Chattab dringen am 7.8. nach Dagestan ein, besetzen im gebirgigen Westen dieser Vielvölkerrepublik im Grenzgebiet zu Tschetschenien mehrere Dörfer in den Bezirken Botlich und Zumada und rufen am 10.8. einen unabhängigen islamischen Staat aus. Nach tagelangen Luft- und Artillerieangriffen der russischen Streitkräfte und schweren Kämpfen, die auf beiden Seiten zahlreiche Tote und Verletzte fordern, ziehen sich die islamistischen Separatisten bis zum 24.8. wieder aus Dagestan zurück. Tausende von Zivilisten flüchten aus dem Krisengebiet. Ab 30.8. kommt es in Dagestan erneut zu heftigen Gefechten zwischen russischen Streitkräften und tschetschenischen Rebellen.
Nordossetien
Bei einem Bombenanschlag am 19.3. 1999 auf den zentralen Markt in Wladikawkas, einem der wichtigsten russischen Militärstützpunkte im Nordkaukasus, werden über 50 Menschen getötet und über 100 verletzt.
Inguschetien
Ende Oktober 1998 wird die Hauptstadt von Nasran in die neuerrichtete Stadt Magas (Stadt der Sonne) verlegt.
Karatschajewo-Tscherkessien
Die von massiven Wahlfälschungen gekennzeichneten ersten Präsidentschaftswahlen im Mai 1999 werden vom Obersten Gericht der RF Ende Juli für ungültig erklärt. Um die Lage zu entschärfen ernennt Präsident Jelzin am 24.7. seinen früheren persönlichen Sonderbeauftragten für Tschetschenien, Wlassow, zum Übergangspräsidenten. Am 30.7. demonstrieren Zehntausende von Anhängern des ehem. Generals Wladimir Semjonow, halb Karatschaier, halb Russe, und fordern dessen Ernennung zum Präsidenten. Bei den Stichwahlen am 16.5. soll sich dieser angeblich mit deutlicher Mehrheit gegen den Unternehmer und Tscherkessen Stanislaw Derew durchgesetzt haben.
Entwicklung in der GUS
Die Präsidenten von Kasachstan, Kirgisistan, Rußland, Tadschikistan und Weißrußland (Gemeinschaft Integrierter Staaten / GIS), Nursultan Nasarbajew, Askar Akajew, Jelzin, Imomali Rachmanov und Aleksandr Lukaschenka, unterzeichnen am 26.2. 1999 in Moskau ein Abkommen über einen gemeinsamen Wirtschaftsraum; die GIS, die eine Zollunion bildet, war am 29.3. 1996 von vier Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gegründet worden, um die Integration im wirtschaftlichen und humanitären Bereich zu vertiefen.
Präsident Jelzin entläßt am 4.3. 1999 ohne Konsultation der anderen elf Staatschefs der GUS den umstrittenen Beresowskij als Exekutivsekretär der GUS; er habe seine Vollmachten überschritten. Bei einem Gipfeltreffen der Präsidenten der GUS-Staaten am 2.4. in Moskau wird keine Einigung über die Verlängerung des am 15.5. 1992 von sechs ehem. Sowjetrepubliken unterzeichneten Vertrags über kollektive Sicherheit, dem sich später drei weitere GUS-Staaten anschlossen, erzielt. Aserbaidschan, Georgien und Usbekistan lehnen eine Verlängerung des am 20.4. 1999 auslaufenden Vertrags ab. Die Moldau, Turkmenistan und die Ukraine waren dem militärischen Beistandspakts nie beigetreten. Neuer Exekutivsekretär der GUS wird Jurij Jarow.
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