Aktuell
Staaten
Buch
CD-ROM
Wissensquiz
Bücher Tauschbörse


Links


FAQ





Archivrubriken Staaten - Umwelt - Internationale Organisationen - Deutschland, Österreich, Schweiz - Wirtschaft



Chronik: Algerien

FWA 2000, Sp. 54

Staatspräsident Liamine Zéroual erklärt am 11.9. 1998, daß er seine bis zum Herbst 2000 dauernde Amtszeit vorzeitig beenden wolle, und nennt dafür gesundheitliche Gründe und die Absicht, »einen Führungswechsel zu ermöglichen«. Der Termin für eine Neuwahl wird auf den 15.4. 1999 festgesetzt. Zérouals Rücktritt ist Ausdruck einer tiefgehenden Krise in der politisch-militärischen Führungsschicht Algeriens, wobei die Frontlinien nicht nur zwischen der Militär- und Staatsführung verlaufen, sondern auch innerhalb der beiden Lager. Entscheidender Streitpunkt ist die Haltung gegenüber den islamistischen Parteien und der Bewaffneten Islamischen Gruppen. Im Militär geben die Vertreter einer vollständigen Vernichtung der Islamisten den Ton an, die sich auf militärische Erfolge berufen, den Terror der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) aber nach wie vor nicht beenden konnten. Sie werfen der Regierungsfraktion zu eigenmächtiges Handeln vor; Zéroual soll nicht autorisierte Geheimverhandlungen mit der Islamischen Heilsfront (FIS) geführt haben.

Nach Berichten in der unabhängigen (aber zensierten) Presse tritt am 18.10. 1998 Justizminister Mohammed Adami zurück, einen Tag darauf Präsidentenberater Mohammed Betchine, ein enger Vertrauter Zérouals. Adami wurden in einer anonymen Erklärung algerischer Staatsanwälte sexuelle Übergriffe gegen weibliche Gefangene vorgeworfen, Betchine sah sich mit Enthüllungen über Korruption und Machtmißbrauch konfrontiert.

Am 14.12. tritt Ministerpräsident Ahmed Ouyahia zurück, sein Amt übernimmt Ismail Hamdani. Während seiner dreijährigen Amtszeit war die Politik des Technokraten Ouyahia geprägt von der Umsetzung eines mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank vereinbarten Strukturanpassungsprogramms. Subventionsabbau, Abwertung des Dinar, Privatisierung und Schließung von Staatsbetrieben haben einen Rückgang der Inflation auf 5 % und ein Wirtschaftswachstum von 6 % bewirkt, zugleich jedoch die soziale Situation in Algerien verschärft. Opposition und Gewerkschaften machten Ouyahia für Verarmung und Arbeitslosigkeit (30 %) verantwortlich, in den vergangenen beiden Jahren sind rund die Hälfte aller Arbeitsplätze in den Staatsbetrieben verlorengegangen.

Präsidentschaftswahlen

Auseinandersetzungen um die Person des Präsidentschaftskandidaten des Rassemblement National Démocratique (RND) führen am 26.1. 1999 zur Spaltung der Regierungspartei; der Mehrheitsflügel unter dem neuen Generalsekretär Ouyahia des RND unterstützt den früheren Außenminister Abdelaziz Bouteflika, der auch von Teilen des Militärs favorisiert wird und als »unabhängiger« Kandidat der Front de libération nationale (FLN) nominiert worden ist. Von den mehr als 40 Anwärtern auf das Präsidententamt werden am 11.3. 1999 sieben als Kandidaten zugelassen, unter ihnen Hocine Aït Ahmed, Führer der Oppositionspartei Front des forces socialistes (FFS). Aït Ahmed, ein Held des Befreiungskampfes, kehrt am 2.2. 1999 aus dem Schweizer Exil, wo er sich 1963-86 und erneut seit 1992 aufgehalten hat, nach Algerien zurück, um sich dem Votum zu stellen. Ihm wie dem FLN-Kandidaten Ahmed Taleb Ibrahimi, Sohn des Oberhaupts der islamischen Geistlichkeit in Algerien und ehemals Bildungsminister unter Houari Boumedienne, räumen Meinungsumfragen gute Chancen ein. Ausgeschlossen von der Kandidatur wird MSP-Hamas-Führer Nahnah, der 1995 nur knapp gegen Zéroual unterlag: Er erfüllt nicht die Anforderung der Verfassung von 1996, daß Präsidentschaftskandidaten, die vor dem 1.7. 1942 geboren sind, ihre Beteiligung am Befreiungskampf nachweisen müssen. Die relativ offene Situation vor den Wahlen und das Antreten von Bewerbern, die für den Dialog mit den Islamisten eintreten, nährt bei Opposition wie Bevölkerung Hoffnungen auf einen Wandel. Erstmals ruft die FIS nicht zum Wahlboykott auf, sondern empfiehlt, für Ibrahimi zu stimmen; als aussichtsreichster Kandidat gilt jedoch Abdelaziz Bouteflika. Am 14.4. 1999, einen Tag vor dem Wahltermin, ziehen alle Kandidaten außer Bouteflika ihre Bewerbung zurück, weil ihrer Ansicht nach Anzeichen für massiven Wahlbetrug zugunsten des Regierungskandidaten Bouteflika vorhanden sind. Da im Wahlgesetz eine Demission von Kandidaten nicht vorgesehen ist, findet der Wahlgang am 15.4. mit der ursprünglichen kompletten Liste statt. Bouteflika erhält nach offiziellen Angaben 73,8 % der abgegebenen Stimmen, die Wahlbeteiligung wird mit 60,3 % angegeben. Die Sicherheitskräfte unterdrücken Protestkundgebungen der Opposition, die von einer Wahlbeteiligung von höchstens 30 % ausgeht und Bouteflikas Mandat als »illegitim« bezeichnet. Bouteflika, der am 27.4. vereidigt wird, ist der erste Zivilist im höchsten Amt seit Bestehen des algerischen Staates. In seiner Antrittsrede Ende Mai bekräftigt er, eine Politik der »nationalen Versöhnung« verfolgen zu wollen. Ende Juni billigt das Parlament ein von Bouteflika eingebrachtes Amnestiegesetz, das Strafmilderung für etwa 2300 inhaftierte Islamisten vorsieht, die nicht direkt an Kapitalverbrechen beteiligt waren. Am 16.9. ist ein Referendum über dieses Projekt der Versöhnung vorgesehen, an dessen Ausgang der Präsident seinen Verbleib im Amt knüpft. Am 5.7. 1999, dem algerischen Nationalfeiertag, begnadigt Bouteflika rund 5000 Islamisten.

Ausdruck einer Kooperation zwischen der Staatsmacht und jenen Islamisten, die eine Rückkehr in die offizielle Politik anstreben, ist die endgültige Einstellung aller bewaffneten Aktionen durch die Islamische Armee des Heils (AIS). Ihr Führer Madani Merzag teilt dies am 6.6. 1999 in einem Brief an den Präsidenten mit, eine Woche später bekräftigt dies der unter Hausarrest stehende FIS-Führer Abassi Madani. Die GIA reagiert am 22.6. auf die Gewaltverzichtserklärung mit der Ankündigung einer »Intensivierung des Heiligen Krieges« und einer »Flut des Schreckens« in Algerien und im Ausland. Nach wie vor richten sich ihre Aktionen gegen Militär und Polizei und gegen Dorfbewohner, die mit diesen zusammenarbeiten, neuerdings auch gegen Mitglieder der AIS.; Mitte August werden bei einem Anschlag an der Grenze zu Marokko 29 Menschen ermordet. Nach verschiedenen algerischen Quellen hat dieser »Krieg« zwischen GIA und Sicherheitskräften dennoch allein von August 1998 bis Mai 1999 mindestens 1000 Menschenleben gefordert. Präsident Bouteflika bestätigt im Juli 1999 offiziell die Zahl von 100000 Opfern des siebenjährigen Bürgerkriegs, die zuvor nur von Oppositionsgruppen genannt wurde.

Ende Juli erklärt Bouteflika, daß er der seit 1992 verbotenen FIS erlauben wolle, sich als Partei unter der Bedingung zu reorganisieren, daß die alte Parteiführung ihr nicht mehr angehöre; gleichzeitig kündigt der Präsident die baldige Freilassung des früheren FIS-Führers Madani an, wenn dieser sich nicht mehr politisch betätige.

Zurück


 

Aktuelle Informationen zu diesem und allen übrigen Themen des ARCHIVS finden Sie im Fischer Weltalmanach 2001 und im Digitalen Fischer Weltalmanach 2001.