FWA 2000, Sp. 54
Soziale Unruhen, die Auswirkungen der asiatischen Finanz- und Wirtschaftskrise und der »Jahrhundertflut« veranlassen die politische Führung, das eingeschlagene Tempo der Industriereformen zu drosseln.
Überschwemmungskatastrophe
Als erste, auf Flutschutz angelegte umweltpolitische Konsequenzen aus dem verheerenden Hochwasser zwischen Juli und September 1998 erlassen die Behörden am 1.9. und 1.10. Holzschlagverbote für die Wälder der Provinzen Yunnan und Sichuan am Oberlauf des Jangtse; die in Poldern ansässige Bevölkerung soll umgesiedelt werden, um Überflutungsflächen wiederherzustellen. Nach Angaben des Internationalen Roten Kreuzes vom 12.10. fanden 3656 Menschen den Tod, wurden 25 Mio. ha Land überschwemmt und 5,6 Mio. Häuser zerstört; 1 Mio. Menschen wurden obdachlos. Unter Berufung auf ein internes Dokument der Regierung berichtet die Hongkonger Zeitung »Cheng Ming« am 7.9. dagegen von 13500 Todesopfern.
Anfang August 1999 müssen bei einer erneuten Überschwemmungskatastrophe im Einzugsbereich des Jangtse rd. 5,5 Mio. Menschen evakuiert werden.
Dissidenten / Menschenrechtspolitik
Die UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson besucht vom 6. bis 15.9. 1998 die VR China, um dem Beitritt des Landes zur Menschenrechtskonvention den Weg zu ebnen. Von zahlreichen Dissidenten und Menschenrechtsaktivisten sowie amnesty international (ai) aufgerufen, auf eine Änderung der willkürlichen Justizpraxis zu drängen, vermeidet sie öffentliche Kritik an der Menschenrechtssituation, fordert im Gespräch mit Staats- und Parteichef Jiang Zemin am 14.9. die chinesische Führung jedoch auf, der Beachtung der Menschenrechte einen höheren Stellenwert einzuräumen.
Am 6.10. unterzeichnet der UN-Botschafter der VR China in New York den 1976 in Kraft getretenen Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (sog. Zivilpakt). Diese Ergänzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 garantiert den Bürgern die Grundrechte auf Gleichheit vor dem Gesetz, Gewissens-, Glaubens-, Meinungs-, Versammlungs-, Bewegungs- und Organisationsfreiheit, den Schutz vor Folter, Zwangsarbeit, willkürlichem Freiheitsentzug und Todesstrafe sowie aktives und passives Wahlrecht; rechtlich bindend wird das Abkommen erst mit der Ratifizierung durch den NVK, für die keine Frist vorgesehen ist.
Anläßlich des Besuchs der UN-Menschenrechtskommissarin wie schon des Staatsbesuchs von US-Präsident Bill Clinton (25.6.-3.7. 1998) versuchen Bürgerrechtler in sieben Provinzen erfolglos, Antrag auf die amtliche Registrierung der Chinesischen Demokratischen Partei (CDP) als neue politische Partei zu stellen. In Beijing wird am 10.11. eine Ortsgruppe gegründet, deren Vorsitz der prominente Regimekritiker Xu Wenli übernimmt. Er wird am 21.12. in Beijing wegen »versuchten Sturzes der Staatsgewalt« zu 13 Jahren Haft verurteilt.
Anläßlich der Frühjahrstagung der UN-Menschenrechtskommission in Genf wirft ai in einem am 20.4. 1999 veröffentlichten Bericht der chinesischen Führung schwere Menschenrechtsverletzungen gegenüber den in der Autonomen Region Xinjiang im Nordwesten Chinas nach nationaler Unabhängigkeit strebenden muslimischen Uiguren vor. Am 22.1. wurde bekannt, daß in Yining 29 uigurische Separatisten, die an den schweren Unruhen im Frühjahr 1997 beteiligt gewesen sein sollen, zum Tode verurteilt wurden; die Vollstreckung der Urteile wurde um zwei Jahre ausgesetzt.
Zur größten Kundgebung in Beijing seit der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 kommt es am 25.4., als über 10 000 Anhänger der Kultbewegung Falun Gong, die 1992 gegründet wurde und nach eigenen Angaben rd. 100 Mio. Mitglieder hat, überraschend vor dem Hauptgebäude der KPC h für Glaubensfreiheit demonstrieren. Am 23.7. wird die Falun Gong verboten, da sie eine Gefahr für die öffentliche Ordnung sei; gegen den in den USA lebenden Gründer Li Hongzi wird ein internationaler Haftbefehl erlassen.
Aus Anlaß des 10. Jahrestags des Massakers auf dem Tiananmen-Platz am 4.6. 1989 in Beijing reichen Mitte Mai 105 Dissidenten und Angehörige von Opfern bei der Generalstaatsanwaltschaft in Beijing Klage gegen Parlamentspräsident Li Peng ein, der als Ministerpräsident seinerzeit neben Deng Xiaoping als Hauptverantwortlicher für den Einsatz des Armee gegen die Demonstration gilt.
Tibet
Am 10.3. 1999, dem 40. Jahrestag des Volksaufstands gegen die Besetzung Tibets durch China, bekräftigt der im indischen Exil lebende Dalai Lama, geistliches und weltliches Oberhaupt der Tibeter, in Dharmsala seinen Kurs des »Mittleren Weges«, mit dem er eine »wirkliche Autonomie«, jedoch keine politische Unabhängigkeit Tibets von China anstrebe.
Nationaler Volkskongreß (NVK)
In seinem ersten Rechenschaftsbericht vor den 2869 Delegierten des NVK, der in Beijing vom 5.3.-15.3. 1999 tagt, kündigt Ministerpräsident Zhu Rongji an, trotz der verschärften wirtschaftlichen Probleme an den gesellschaftlichen Reformen festhalten zu wollen. Als Schwerpunkte benennt er die Verbesserung des Finanzsystems und die Bekämpfung von Kriminalität und Korruption. Vom NVK beschlossen werden u. a. Verfassungsänderungen: Die Theorien Deng Xiaopings zum Aufbau einer »sozialistischen Marktwirtschaft« erhalten neben den sozialistischen Leitgedanken Mao Zedongs Verfassungsrang; Privatunternehmen, bisher nur als Ergänzung der Wirtschaftsordnung betrachtet, gelten jetzt als »wichtige Stütze«.
Taiwan
Auf die Äußerungen des Präsidenten der abtrünnigen Republik China Lee Teng-hui am 11.7. 1999 zum politischen Status von Taiwan reagiert die Staatsführung in Beijing mit militärischen Drohungen, der Bekanntgabe, die Neutronenbombe bauen zu können und dem erfolgreichen Test einer Langstreckenrakete; sie unterstreicht damit ihre Erklärung, eine »Spaltung des Vaterlandes« durch die formelle Ablösung des Inselstaates gegebenenfalls auch gewaltsam verhindern zu wollen.
Außenpolitik
USA: Entgegen den Erwartungen, die sich mit den gegenseitigen Staatsbesuchen von Staats- und Parteichef Jiang Zemin (26.10.-2.11. 1997) und US-Präsident Bill Clinton (25.6.-3.7. 1998) verknüpften, verschlechtern sich die Beziehungen zwischen China und den USA im Berichtszeitraum erheblich. Gemeinsam mit Rußland protestiert China am 17.12. 1998 scharf gegen die tags zuvor aufgenommenen angloamerikanischen Luftangriffe auf den Irak, die eine grobe Verletzung der UN-Charta darstellten.
Der Besuch von Ministerpräsident Zhu Rongji in den USA vom 6.-14.4. 1999, der ersten Visite eines chinesischen Regierungschefs seit 13 Jahren, leidet vor allem unter der Belastung durch den Kosovokonflikt, den von China abgelehnten Plan der USA, einen Raketenabwehr-Schirm in Asien aufzubauen, in den auch die Republik China einbezogen werden könnte, sowie unter Berichten, Chinas Spionage habe sich über Jahrzehnte umfassende Erkenntnisse über die amerikanische Atomwaffenforschung und -entwicklung beschafft. Zhu räumt Defizite bei der Verwirklichung von Menschenrechten ein. Ungeachtet der Differenzen halten Zhu und Clinton am Ziel einer »strategischen Partnerschaft« beider Staaten fest.
Japan: Anläßlich des 20. Jahrestags der Unterzeichnung des bilateralen Friedens- und Freundschaftsvertrags unternimmt Jiang Zemin vom 25. bis 29.11. 1998 die erste offizielle Visite eines chinesischen Staatsoberhaupts seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
Vereinte Nationen / Kosovokonflikt: Mit dem Standpunkt, daß die Krise um das Kosovo »grundsätzlich eine innere Angelegenheit Jugoslawiens « sei, lehnt China im UN-Sicherheitsrat eine Einbeziehung der Weltorganisation in eine militärische Lösung des Kosovokonflikts ab.
Nach der von der NATO anschließend als versehentlich erklärten Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad in der Nacht zum 8.5. 1999 mit vier Todesopfern kommt es zu Massendemonstrationen und heftigen Protestaktionen in zahlreichen chinesischen Städten. Die diplomatischen Vertretungen der USA in Beijing und in vier weiteren Städten, mehrere Tage lang von Demonstranten belagert und attackiert, werden vorübergehend geschlossen. Die Erklärung, die Bombardierung der chinesischen Botschaft sei ein Versehen, weist die chinesische Regierung am 17.6. als »nicht überzeugend« zurück.
Wirtschaft
Anfang Oktober 1998 wird die Investmentgesellschaft Gitic (Guandong International Trust and Investment Corporation) wegen Zahlungsunfähigkeit geschlossen. Sie hat Verbindlichkeiten in Höhe von 36,3 Mrd. Yuan (rd. 4,4. Mrd. US- $) gegenüber einem Anlagevermögen von 21,5 Mrd. Yuan; betroffen sind rd. 20000 Privatanleger und 240 Großgläubiger, unter ihnen 135 ausländische Finanzinstitute. Am 10.1. 1999 wird das zweitgrößte Investmentunternehmen offiziell für bankrott erklärt. Die Regierung erklärt, nur für den Teil der Einlagen der ausländischen Banken einstehen zu wollen, den sie sich von der State Administration of Foreign Exchange (SAFE) genehmigen ließen.
In seinem Rechenschaftsbericht vor dem NVK am 5.3. beklagt Ministerpräsident Zhu Rongji »eine chaotische Wirtschaftsordnung«, Korruption, Verschwendung und mangelnde Finanzdisziplin. Trotz der Belastungen durch die Auswirkungen der asiatischen Wirtschafts- und Währungskrise, die für 1999 nur ein Wirtschaftswachstum von 7 % erwarten ließen, werde die VR China an der Öffnung zum Ausland und den Strukturreformen festhalten. Im Rahmen einer »aktiven Fiskalpolitik« wird ein Anstieg des Haushaltsdefizits um 57 % auf 150,3 Mrd. Yuan (rd. 30 Mrd. DM) in Kauf genommen, um mit der Realisierung von Infrastrukturvorhaben die Konjunktur zu beleben und Arbeitsplätze zu schaffen. Halboffiziellen Angaben zufolge betrug die Arbeitslosenquote in den Städten 1998 nicht nur 3, sondern 8 %; für 1999 wird sie mit rd. 9 % veranschlagt. Die Umstrukturierung der verlustbringenden Staatsbetriebe, die sich wegen der dramatisch angestiegenen Arbeitslosenzahlen und der asiatischen Finanzkrise verlangsamt, soll nun zwei Jahre später, im Jahr 2002, abgeschlossen werden.
Hongkong
Nach Angaben von Finanzsekretär Donald Tsang vom 3.3. 1999 fiel das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 5,1 % (Vorjahr noch +5,3 %), die Investitionen sanken um 5,8 %, die Exporte um 4,3 %; die Arbeitslosenquote erreichte mit 5,8 % den bisherigen Höchststand.
Als Test für die der Sonderverwaltungsregion Hongkong zugesicherte Autonomie wird ein juristischer Konflikt über das Recht von Festlandschinesen gewertet, Bürger von Hongkong zu werden. Der von Hongkongs Regierungschef Tung Chee-hwa als Berufungsinstanz angerufene Ständige Ausschuß des Nationalen Volkskongresses in Beijing erklärt das Urteil des Obersten Gerichtshofs von Hongkong vom 29.1. für ungültig, nach dem 1,6 Mio. Festlandschinesen ein Aufenthaltsrecht hätten. Mehr als die Sachentscheidung selbst, durch die eine befürchtete Masseneinwanderung von Festlandschinesen verhindert werden soll, wird die Aufhebung des Urteils als Präzedenzfall zur Unterhöhlung der Justiz und der Autonomie von Hongkong interpretiert.
Während in Beijing scharfe Vorkehrungen gegen öffentliche Kundgebungen zum 10. Jahrestag der Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung getroffen wurden, findet am 4.6. in Hongkong eine Gedenkveranstaltung statt, zu der nach Angaben der Veranstalter rd. 60 000 Teilnehmer erscheinen.
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